Aufstand

Aufstand
Die Protestaktion einer jungen Schwedin an Bord eines Flugzeuges zieht ein großes Medienecho nach sich. Vor allem aber ermutigt sie zur Frage: Wann bleibe ich selbst eigentlich standhaft?

Ich lese die Nachricht kurz nach dem Aufstehen. Die Kaffeemaschine blubbert, ich reibe mir den Schlaf aus den noch müden Augen, scrolle durch die Tagesschau-App. Und dann vergesse ich den Kaffee. Und die Müdigkeit. Weil ich von Elin Ersson lese. Von der schwedischen Studentin, die sich im Flugzeug nach Istanbul weigert, sich hinzusetzen. So lange, bis ein Mann, der nach Afghanistan abgeschoben werden soll, aus dem Flugzeug aussteigen darf. Elins Aktion wird auf Facebook übertragen. „Ich versuche, sein Leben zu retten“, begründet sie ihren Widerstand im Video. In Afghanistan drohe dem Mann Krieg und Tod. Die Besatzung versucht die junge Frau zum Hinsetzen zu bewegen. Ohne Erfolg. Elin bleibt stehen. „Ich verlasse das Flugzeug erst, wenn er es auch darf.“ Einige applaudieren. Andere sind empört, versuchen ihr das Handy abzunehmen, eine Fußballmannschaft schließt sich Elins Protest an. Sie stehen auf.  

Am Ende gewinnt die Studentin. Wenigstens für den Moment. Zwei Stunden später hebt das Flugzeug ab. Der 52-jährige Afghane und drei Begleiter steigen aus. Die junge Studentin wird von der Security von Bord geführt. Ob der Afghane mit einer späteren Maschine doch noch abgeschoben wird und mit welchen strafrechtlichen Konsequenzen Elin Ersson für ihre Aktion rechnen muss, ist zum Zeitpunkt, in dem Elins Video viral geht, noch unklar. Doch auf der ganzen Welt wird es bereits millionenfach geklickt, geliket, geteilt. In den Kommentaren wird Elin teilweise als Heldin, teilweise als Straftäterin dargestellt. Von den einen gefeiert, von den anderen verurteilt. So ist das immer.

Doch egal, ob man sie für ihren Mut bewundert oder sie als Anarchistin beschimpft, die gegen geltendes Recht verstößt, vielleicht geht es manchen so wie mir: Ich sehe Elin, ihre stressgefleckten Wangen, ihre tränenerfüllten Augen, vor allem aber ihre Standhaftigkeit. Und sie berührt mich, ganz tief. In meinem Kern. Und sie zwingt mich zu der ehrlichen Frage an mich selbst: Wann stehe ich denn auf? Wann bleibe ich standhaft? Widerständig? Trotzig? Was empört mich? Wie gelingt es mir, mich nicht einschüchtern zu lassen von Parolen und Politik, mich nicht einwickeln zu lassen? Wie setze ich den großen Krisen des Lebens mein „Trotzdem“ entgegen, meine Liebe und meine Hoffnung, meinen Glauben? Was treibt mir Tränen in die Augen und lässt mich trotzdem klar sehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Menschenrechte sind unser höchstes Gut. Die Liebe ist stärker als der Tod.

Elin steht. Ich schreibe. Diesen Text. Im Stehen.

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