Gestern noch stand ich an der Schwelle der Zeit. 10-9-8-7-6-5-4-3-2-1. Und dann: Feuerwerk, Sektgläserklirren, Glockengeläut. Wir fielen uns in die Arme. Freunde und Fremde. Wünschten einander ein frohes neues Jahr. Gesundheit, Liebe, Zuversicht. Und mehr Alkohol. Um auf die guten Vorsätze anzustoßen oder um die nicht erfüllten Wünsche des vergangenen Jahres zu ertränken.
Die Nacht ist kurz, der Morgen schnell da. Das neue Jahr beginnt mit Regen. Beim Aufwachen habe ich einen trockenen Mund und einen wummernden Kopf.
Ich mag Silvester nicht besonders, aber ich mag Neujahr. Denn ich mag Anfänge.
Und deswegen trinke ich an diesem Tag, diesem ersten des neuen Jahres, ein paar große Gläser Wasser, schlüpfe in meine Kleider, schnüre die Schuhe fest und suche das Weite. Ich halte Ausschau nach Anfängen. Denn sie sind es, die ich feiern will. Kein Abschiedsfest von Vergangenem, keine Trauerfeier, sondern ein Willkommensfest. Willkommen, neues Jahr. Wie schön, dass du geboren bist, ich hätte dich sonst so vermisst.
Im Studium lernte ich Hannah Arendt kennen. Leider nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern eher zwischen ihren Zeilen. In ihren Weltworten las ich von der Banalität des Bösen. Über die Revolution. Vom tätigen Leben. Und besonders hängen geblieben ist mir ihr Nachdenken über die „Gebürtlichkeit“, wie sie es nennt. Die große Philosophin des 20. Jahrhunderts drückt mit dieser Wortneuschöpfung aus, dass mit der Geburt die Möglichkeit des Menschen beginne, einen Anfang zu machen. Einen Unterschied für seine Umwelt. Und ich brauche mir nur meine Freunde anzuschauen, die vor Kurzem Eltern geworden sind, und ich begreife, was Hannah Arendt gemeint haben könnte. Bei ihnen macht das neugeborene Baby definitiv einen Unterschied. Es stellt für sie einen Anfang dar. Waren sie vorher ein Paar, nennen sie sich nun Familie und gestalten miteinander ein Stück dieser Welt neu.
Bei meinem Spaziergang durch den ersten Tag des Jahres, fällt mir auf: Nicht immer sind alle Anfänge für alle Augen gleich erkennbar. Die Welt sieht nicht wesentlich anders aus, als noch vor Mitternacht – die zerfetzten Feuerwerkskörper in den Bordsteinrinnen mal ausgenommen. Und doch: Zu Neujahr habe ich das Gefühl, als hinge eine seltsame Klarheit zwischen den Bäumen. Es ist stiller als sonst, alles irgendwie unberührter. Und mit einem Mal bekomme ich eine neue Ahnung von Schöpfung. Vom Herz aller Dinge. Von Gott. Und von der Schwelle der Zeit, die es zu übertreten lohnt, um einen neuen Anfang wagen zu können. Die erste Seite des Tagebuchs ist unbeschrieben. Nicht umsonst heißt es „Am Anfang war das Wort.“ Das Glas ist eher halbvoll, als halbleer. Die Jahreslosung für 2018 lautet „Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ Alles geschieht zum ersten Mal in diesem Jahr. In der Offenbarung steht: „Siehe, ich mache alles neu.“ Und so regt sich in mir die zarte Hoffnung, dass etwas dran sein möge an dieser Gebürtlichkeit, von der Hannah Arendt sprach. Dass mit der Geburt die Möglichkeit beginne, einen Anfang zu machen. Einen Unterschied. Vielleicht ja auch mit der Geburt eines neuen Jahres.
Zuhause schlage ich Sahne für die Eiserwaffeln, die es bei uns traditionell am 1. Januar gibt. In der Luft liegt ein Duft von Anis. Und von Anfang.