Windsbach. Die kleine Stadt mit dem weltberühmten Chor, den nur wenige kennen, ursprüngliche Heimat des berühmtesten (weil seit langem einzigen) Stilvoll-Glauben-Autors auf evangelisch.de. In meiner Jugendzeit kam es immer wieder mal vor, dass Menschen mit verzweifeltem Blick ihr Auto anhielten, das Fenster runterkurbelten (ging damals noch mechanisch) und fragten, wo es denn hier zum Freilandmuseum gehe.
„Kein Problem. Sie fahren hier unten durch das Tor, dann rechts, nach etwa 20 Kilometern an der Ampel links, und nach weiteren 30 Kilometern ist es dann ausgeschildert.“ So etwa lautete meine Standardantwort, die mir, zugegeben, viel Spaß machte, wenn die armen verirrten Touris mal wieder nicht genau hingeschaut und Windsbach mit Bad Windsheim verwechselt hatten. Da der Knabenchor in der Regel nicht zu besichtigen ist und die Windsbacher Stadtkirche zwar ganz nett, aber auch kein tagesfüllendes Angebot ist, versuchte ich gar nicht erst, sie zum Bleiben zu bewegen, fragte mich aber durchaus gelegentlich, wie wohl die Stimmung unter den Mitreisenden im Auto sein würde, wenn sie nun noch eine Stunde durch die Gegend gurkten, nachdem sie sich schon am Ziel wähnten.
Vielleicht hätten wir einfach ein Bild von Bad Windsheim anbringen sollen. Wittenberge macht’s vor. Also, heute im Angebot: Bahnhof Wittenberge. Ziemlich genau in der Mitte der Schnellstrecke Berlin-Hamburg gelegen, ein erstaunlich großer Bahnhof für eine Stadt mit gerade mal 17.000 Einwohnern. Hier können Sie umsteigen in diverse andere Linien. Von der S-Bahn über den RE und Eurocity bis hin zum ICE hält hier quasi alles, wenn auch die schnelleren Züge nicht so wahnsinnig oft. Das imposante Empfangsgebäude im klassizistischen Stil entstand immerhin schon 1846.
Im Jahre des Herrn 2020 nun ließ die Bahn Teile des Bahnhofs erneuern. Unter anderem wurde der Fußgängertunnel mit Sehenswürdigkeiten der Stadt Wittenberge bemalt. Das Rathaus, die Ölmühle, die Schlosskirche. Ähm – was? Ja, die berühmte Schlosskirche von Wittenberge, an deren Türen Dr. Martinus Luther damals im Jahre 1517 (möglicherweise) seine 95 Thesen anschlug.
Doch wenn Sie den Fußgängertunnel verlassen, können Sie sich weit und breit umsehen – die Schlosskirche werden Sie hier nicht finden. Denn die ist, nun ja, halt nicht da. Sie befindet sich in Wittenberg. Ohne e. Da hat sich der Künstler (mit e) wohl geografisch ein klein wenig vertan und eine zwar namentlich ähnliche, aber doch recht weit entfernte Attraktion in den Tunnel gemalt. Kann schon mal passieren, wenn man unterirdisch malt und keinen Vergleich zur realen Umgebung hat. Tunnelblick nennt man das wohl. Da reicht auch nicht einmal an der Ampel links abbiegen. Mit der Bahn braucht’s zwischen zwei und fünf Stunden und zigmaliges Umsteigen. Die nächste verfügbare Fahrt fällt übrigens gerade aus, sagt mir die Bahn-Homepage.
Na ja, jedenfalls: Es ist lange Zeit kaum jemandem aufgefallen, dass sich Wittenberge mit fremden wittenbergischen Federn, äh Kirchen, schmückte. Okay, die Stadt Wittenberge wies bereits kurz nach der Umgestaltung die Deutsche Bahn darauf hin, dass da ein kleiner, aber bedeutender Fehler vorliegen könnte. Bis heute ist nichts passiert. Und eigentlich finden die Wittenbergerer (oder so ähnlich, wie soll man das sonst von den Wittenbergern unterscheiden?) das sogar ganz lustig. Ist ja nicht das erste Mal, dass die beiden Städte verwechselt werden, wie man leicht nachvollziehen kann. Und ist doch eigentlich ganz spaßig. Also, außer für die Touris. So können alle, die eigentlich die Lutherstadt Wittenberg besuchen wollten, aber versehentlich im DB Navigator Wittenberge gesucht haben, wenigstens eine der Sehenswürdigkeiten ihres ursprünglichen Zielorts bewundern, wenn auch nur von außen. Wenn das mal kein Service für orientierungslose Touristen ist!
War eigentlich Luther zu Lebzeiten mal in Wittenberge? Darüber liegen mir keine Belege vor. Vielleicht hat er ja auch mal in das Kutschen-Navi die falsche Adresse eingegeben. Mit der Bahn ist er jedenfalls nicht gekommen, die hätte er vorher erst einmal erfinden müssen. Vielleicht ganz gut so. Am Ende hätte er seine Thesen noch im Fußgängertunnel zu Wittenberge angebracht und mit seinen Nägeln den ganzen Putz zerstört.
Wie auch immer: Wir wünschen gute Reise. Achten Sie immer gut auf Ihr Ziel!