Rasende Christen

Umstrittene Autobahnfahrt
Rasende Christen
Eine rasende Fahrt auf der Autobahn als Missions-Aktion? Fragwürdige Aktion.



417 Kilometer pro Stunde. Diese Maximalgeschwindigkeit erreichte ein Milliardär aus Tschechien mit seinem Bugatti bei einer Fahrt über die deutsche Autobahn bereits im Juli 2021. Vor wenigen Tagen stellte er das Video dazu auf Youtube und erzielte damit bereits über 7 Millionen Aufrufe. Wahrscheinlich haben Sie’s auch schon gesehen oder zumindest davon gehört.

VIERHUNDERTSIEBZEHN STUNDENKILOMETER. Die einen schreien: „Cool!“ Die anderen fragen sich: Ist das überhaupt erlaubt? Die Anwaltskanzlei WILDE BEUGER SOLMECKE Rechtsanwälte weist in einem ersten Einschätzungs-Video darauf hin, dass bei Unfällen durchaus eine Mitschuld bestehen kann, wenn die Unfallbeteiligten mehr als die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h gefahren sind. Da kam schon bei 200 km/h durchaus eine Mitschuld von 40% zusammen. Mal kurz den Mathe-Leistungskurs von vor 33 Jahren rausgekramt: 417 ist schneller als 130, ja. Und auch deutlich schneller als die 200, über die das OLG Koblenz damals urteilte. Das geht auch nicht mehr auf „Messtoleranz“.

Auch wenn der Fahrer beteuert, dass ja nicht viel los war und er auf Sicherheit größten Wert legt: Bei einem Bremsweg von mindestens 600 Metern ist es einfach nicht mehr möglich zu reagieren, wenn vor einem irgend etwas passiert, ein Auto ausschert oder jemand zum Überholen ansetzt, der das heranrasende Fahrzeug gar nicht wahrnehmen konnte.

Persönlich muss ich sagen: Ich halte es für absolut unverantwortlich, Menschenleben auf diese Weise zu gefährden. Wer so rasen will, soll von mir aus auf Rennstrecken ausweichen – oder sich eine eigene bauen lassen, die ist vermutlich billiger als dieses Auto selber, das wohl so um die 9 Millionen kostet, wenn ich das richtig verstanden habe.

Besonders ärgert mich aber, dass er diese Geschwindigkeitsprotzerei mit einem Aufruf zum Glauben verbindet. Da er auf dem Weg Richtung Wittenberg war, preist er sogar die Erkenntnisse von Martin Luther. Offenbar hat nur den ersten Satz Luthers aus seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ verstanden: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.“ Ja, das ist wie mit der Autobahn: Keine Begrenzungen. Eine Richtgeschwindigkeit, aber keine Verbote. Toll, also drauf aufs Gas! 417 ist noch gar nichts!

Nur – diese Richtgeschwindigkeit hat eben durchaus einen Sinn. Denn sie bewahrt nicht nur mich selber, sondern vor allem auch andere vor Gefährdung. Und darum geht es Luther: Dass wir die Freiheit, die wir von Gott haben – und da geht es um viel mehr als um freie Wahl der Geschwindigkeit auf der Autobahn – nicht ausnutzen, wenn sie anderen schadet oder schaden könnte. Darum sein zweiter Satz, der nur auf den ersten Blick völlig im Widerspruch zum ersten zu stehen scheint: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Pech für den reichen Raser Radim Passer: Ausgerechnet die lutherische Kirche in Mitteldeutschland, in deren Gebiet auch Wittenberg liegt und damit die rasende Aktion stattfand, hat sich genau aus diesen Gründen – und noch ein paar mehr – schon vor Jahren für ein Tempolimit auf den Autobahnen eingesetzt. Dazu hatte sie eine Petition an den Deutschen Bundestag gestartet, die große Aufmerksamkeit erregte und locker das Quorum erreichte, um im Bundestag behandelt zu werden. Wie wir wissen, hat sie dennoch bisher nicht zum Erfolg geführt.

Aber Videos wie dieses hier bestätigen in meinen Augen, wie nötig ein Tempolimit wäre. Weil es leider immer wieder Menschen gibt, die ihre eigene Freiheit über alles stellen, auch über die Sicherheit und das Leben der anderen. Doch: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Unter seinem Video schreibt Radim Passer  (frei übersetzt): Wir haben dieses Video für euch gemacht, damit ihr die Faszination und Aufregung im Chiron erlebt, aber auch, damit ihr eine Beziehung zu Jesus in Erwägung zieht. Er bringt wahre Liebe, Freude und Hoffnung jedem, der zu ihm kommt.

OK, vielleicht war es ja auch Ziel der Aktion, möglichst viele möglichst direkt zu Jesus zu befördern? Ansonsten sehe ich in einem derart rücksichtslosen Verhalten nichts, aber auch gar nichts, was meinem Glauben entspricht. Denn Liebe bedeutet auch, das Leben und die Sicherheit der anderen zu achten. Und na ja, Freude und Hoffnung finde ich persönlich nicht, wenn an meinem Auto eine Kanonenkugel vorbeirauscht und ich von Glück sprechen kann, wenn ich nicht getroffen wurde.

Ich bete allerdings auch. Um Sicherheit und Bewahrung für den Raser und alle, die ihm auf der Autobahn begegnen. Gewissermaßen hatte Radim Passer dann wohl doch Erfolg.

Ich wünsche Ihnen eine sichere Fahrt.

 

weitere Blogs

Warum Weihnachten hinter einer Mauer liegt und was sie überwinden kann.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?