Lieber anonymer Briefschreiber, liebe anonyme Briefschreiberin!
Nein, schon jetzt muss ich mich korrigieren: Lieb sind Sie nicht. Sehr geehrt aber auch nicht, auch wenn ich Sie als Mensch respektiere und sogar versuche, Ihre Ängste nachzuvollziehen und mir auch die Mühe mache, darauf zu antworten. Antworten kann ich nur öffentlich, denn Sie lassen mir mit Ihrem anonymen Brief keine andere Möglichkeit.
Zunächst einmal: Das, was da in Köln und anderswo geschehen ist, ist schlimm und absolut verachtenswert. Keine Frau – aber auch kein Mann – sollte so eine Behandlung in unserem Land erdulden müssen. Leider ist das ja nicht nur an Silvester in Köln so. Fragen Sie doch mal die Wiesn-Bedienungen, wie oft ihnen auf den Hintern getatscht wird. Und im Kölschen Karneval ist der „Föttchesföhler“, zu deutsch: Po-Grabscher, ein fester Begriff. In einer kölschen Liedersammlung fand ich den Eintrag: „Föttchesföhler-Tango (1989)“, das gibt’s also schon etwas länger und nicht erst seit die Flüchtlinge da sind.
Damit will ich nicht die kriminellen Taten derjenigen relativieren, die da am Kölner Hauptbahnhof die Sau rausgelassen haben. Sondern ich will zeigen: Wir haben da ein viel größeres Problem, als es auf den ersten Blick scheint.
Das zweite Problem neben der allgegenwärtigen sexuellen Gewalt gegen Frauen sehe ich eher am Kölner Hauptbahnhof selbst: Dort scheint die Polizei das Kriminalitätsproblem seit langem nicht in den Griff zu bekommen. Es scheint, dass sich hier in der Tat vor allem ausländische Kriminelle treffen. Da muss auf jeden Fall etwas geschehen, damit sich Reisende wieder sicher fühlen können.
Mittlerweile redet die Polizei in Köln von etwa 20 bis 30 Verdächtigen, jedenfalls nicht von 1000 Männern. Ehrlich gesagt, finde ich das erstaunlich wenig. Wäre ich Taschendieb oder so etwas, ich würde gezielt zu solchen Veranstaltungen fahren, wo Leute ausgelassen und alkoholisiert feiern. Deswegen alle, wirklich alle Flüchtlinge für kriminell zu erklären, halte ich für abenteuerlich. Wir erklären ja auch nicht alle Deutschen für kriminell, weil in Leipzig-Connewitz letzte Woche etwa 250 Randalierer festgesetzt wurden, die dort Schaufensterscheiben eingeschlagen haben und sogar ein Haus angezündet haben. Das jedenfalls waren Deutsche. Und um das klarzustellen: Ich verurteile jede Gewalt, egal, ob sie nun von „links“ oder von „rechts“ kommt. Und alle diese Straftaten sollen bestraft werden, egal, ob sie von Deutschen oder von Ausländern begangen werden. Dafür ist unser Rechtsstaat da. Da soll er bitteschön auch seine Arbeit machen.
Über eine Million Menschen sind in unser Land gekommen und haben bei uns Schutz gesucht. Sie bezeichnen sie als „feige Abhauer“. Das finde ich eine unerhörte Unterstellung. Es sind Menschen, die aus zum Teil völlig zerstörten Kriegsgebieten geflohen sind. Menschen, die Schreckliches durchgemacht haben. Menschen, die oft schon Angehörige verloren haben, Kinder, Eltern, Freunde. Was würden Sie tun, wenn Ihr Haus zerstört wäre, die ganze Stadt, wenn Ihre Kinder ständig in Lebensgefahr wären und es keine Hoffnung auf Besserung gäbe, wenn sich die Kriegsparteien immer weiter die Köpfe einschlagen, immer weiter bomben? Heldenhaft bleiben, gegen jede Vernunft? Ich glaube nicht. Ich jedenfalls würde versuchen, etwas Besseres zu finden für meine Familie.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es die Pflicht von uns Christen ist, Menschen in Not zu helfen. In manchen christlichen Kreisen ist die Frage beliebt: „Was würde Jesus tun?“ Das frage ich mal heute Sie: Was würde Jesus tun? Würde er Menschen, die erschöpft, hungrig und in Not sind, abweisen? Würde er Zäune bauen lassen und sie mit Waffengewalt bewachen lassen (denn anders hätten diese Zäune eh keinen Sinn)?
Jesus sagt etwas anderes. Er sagt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) Und noch viele andere, vergleichbare Stellen. Für mich und für den größten Teil der Christinnen und Christen in Deutschland ist das der Auftrag, an den wir uns halten.
Sie fragen nun sehr plakativ und provokant, ob die sexuell bedrängten Frauen vielleicht nach Jesu Wort auch noch die andere Brust oder Pobacke hinhalten sollen. Ich glaube, nein hoffe, Sie wissen selber, dass das nicht so gemeint ist. Unrecht und kriminelle Handlung bleiben Unrecht und kriminelle Handlung, dagegen müssen wir klar vorgehen. Aber Not und Elend bleiben eben auch Not und Elend, und unser Auftrag als Christen ist, hier zu helfen.
Nutzen diese Menschen unseren Sozialstaat aus? Das kann ich zumindest nicht erkennen. Niemandem hier wird die Sozialhilfe gekürzt, niemandem die Rente oder das Wohngeld. Hartz IV wurde neulich zumindest leicht angehoben – Flüchtlinge erhalten weniger als das. Ach ja, und unser Staat hat wohl sogar 12,1 Milliarden Euro Überschuss erwirtschaftet, so wie es aussieht. Wir können uns das also durchaus leisten als einer der reichsten Staaten der Welt.
Was Sie mit dem „unsere Mutter“ und den „römischen Besatzern“ auf der zweiten Seite gemeint haben, erschließt sich mir beim besten Willen nicht. Daher werde ich darauf auch nicht weiter eingehen.
Den Politikern kriechen wir sicher nicht in den A…, wie Sie es formulieren. Wir formulieren sehr klar, was aus christlicher Sicht notwendige Maßnahmen wären in der jetzigen Situation. Dazu gehört selbstverständlich helfen, wo Not herrscht. Bei Flüchtlingen genauso wie bei Deutschen in Armut. Hier in Schweinfurt, wo ich Pfarrer bin, ist das Diakoniewerk übrigens in beiden Bereichen außerordentlich aktiv. Für die Flüchtlingshilfe wurde da auch keine Tätigkeit zurückgefahren, sondern im Gegenteil neue Arbeitsplätze geschaffen. Ach ja – mal so nebenbei: So eine Million Flüchtlinge kurbeln die Wirtschaft auch ganz schön an. Denn was sie ausgeben, bleibt ja im Land. Ganz im Gegensatz zu den anderen Flüchtlingen, den deutschen Steuerflüchtlingen. Die parken ihr Geld im Ausland und schaden der Gemeinschaft dadurch.
Ich kann Ihre Ängste durchaus verstehen. Es ist beängstigend und verstörend, wenn auf einmal Fremde auftauchen. Und bei der Zahl „eine Million“, die so unvorstellbar groß ist, kriegen manche noch mehr Angst. Wir hier in Deutschland haben etwa 80 Millionen Einwohner. Wenn in einer Kneipe 80 Menschen sind und es kommt noch einer rein – war das jemals ein Problem? Nein, es wird ein klein wenig zusammengerückt. Wenn's gut läuft, wird die Stimmung noch besser. Und der Wirt verdient ein wenig mehr.
Nennen Sie mich blauäugig. Ich hoffe darauf, dass unser Land einen kräftigen Schub bekommt. Den braucht es auch, denn niemand weiß, wer in 20 Jahren die Renten bezahlen soll. Vielleicht einige von denen, die jetzt kommen? Ich hoffe auch darauf, dass wir unser Christsein nicht mehr so selbstverständlich und unreflektiert irgendwie mitnehmen, sondern dass wir uns, angeregt durch einen leicht steigenden Anteil an Muslimen, wieder selber fragen: Was heißt das eigentlich, Christsein? Ich hoffe darauf, dass wir neue Begegnungen haben mit Menschen. Dass wir stolz sein können auf ein Land, das offen und gastfreundlich ist. Das sich auf seine eigenen Wurzeln besinnt und dann ohne Furcht auch neue und andere Traditionen aufnehmen und würdigen kann.
Einer der wichtigsten und häufigsten Sätze in der Bibel ist: „Fürchte dich nicht“. Ich glaube, es tut uns gut, mit weniger Angst und dafür mehr Menschenfreundlichkeit an diese ganze Thematik heranzugehen. Ich wünsche auch Ihnen, dass Ihnen das gelingt.
Ihr
Heiko Kuschel, Pfarrer
Dieser Text wurde auch auf der Homepage der Citykirche Schweinfurt veröffentlicht.