Christliche Botanik

Christliche Botanik

Wenn ich in eine Kirche gehe, komme ich mir manchmal vor wie in einem Gewächshaus: Grüne Pflanzen wohin das Auge blickt. Rechts neben dem Altar eine Yuccapalme. Links unter der Kanzel ein Ficus. Die drei Meter hohen Riesenkakteen sinnvollerweise neben dem Kreuz platziert. Haben ja irgendwie auch was mit Leiden zu tun. Ein Orangenbäumchen verstrahlt den Charme des Landes Palästina. Die große Birke direkt vor der Kanzel könnte darauf hindeuten, dass diese Gemeinde ihren Pfarrer zwar gerne hört, sein äußeres Erscheinungsbild aber nicht so sehr schätzt. Nur einen Ölbaum hat diese Kirche leider noch nicht aufzuweisen. Aber der Mesner ist schon intensiv auf der Suche, garantiert! Falls er nicht gerade wieder auf einer Fortbildung für Mesner ist. Botanikkurse sind da zurzeit hoch im Kurs.

Dabei wirkt die Anordnung der Pflanzen im Kirchenraum oft eher hilflos, ja zufällig. Als wüssten die Verantwortlichen nicht so recht, wohin damit. Doch warum sind sie überhaupt da? Wie kommen die Pflanzen in die Kirche?

Der Erklärung ist an sich ganz einfach: Es liegt an der christlichen Nächstenliebe. Ja, wirklich! Lassen Sie mich das erklären.

Stellen Sie sich vor: In einer Familie ist die Oma gestorben. Sie wohnte bis zuletzt allein in ihrer Wohnung. Nun ist es Zeit, diese Wohnung auszuräumen. Was das alles herumsteht, was da alles entsorgt werden muss! Unter anderem der große Benjamin, den Oma immer hingebungsvoll pflegte. Sogar gesprochen hat sie mit ihm. Jeden Tag. Kaum passt er noch ins Zimmer, kratzt schon an der Decke. In die eigene Wohnung übernehmen? Niemals. Viel zu groß. Wegschmeißen? Geht auch nicht, da hängen doch viel zu viele Erinnerungen dran. Weiß jemand einen großen Raum, in dem man so einen Baum noch unterkriegen könnte? Da erinnert man sich auf einmal an die Pfarrerin, die die Beerdigung so wunderschön gestaltet hatte. Ob die nicht für ihre Kirche ein kleines Bäumchen gebrauchen könnte? Ja klar, die fragen wir! Da tun wir der Kirche doch noch was Gutes!

Erfüllt von Nächstenliebe und dem Stolz, mit Omas Bäumchen nun noch etwas Gutes tun zu können, laden sie den Blumentopf auf einen Tieflader und fahren am nächsten Tag bei der Pfarrerin vor. Die schlägt zwar innerlich die Hände über dem Kopf zusammen, aber den tief trauernden Angehörigen kann sie aus lauter, ja, Nächstenliebe die Annahme des Gewächses doch nicht verwehren. So wandert der Baum, gehoben von sechs ausgewachsenen Möbelpackern, in die Kirche, neben die Palme. Ein wenig hegt die Pfarrerin die Hoffnung, dass dieser Baum in der dunklen, kalten Kirche sowieso nicht sehr lange überleben wird (gewisse Anklänge zur „christlichen Lebensmittelentsorgung“ sind nicht zu übersehen). Doch seltsamerweise scheint all diesen Gewächsen das Klima in der Kirche ausgezeichnet zu bekommen. Sie gedeihen, grünen und blühen, als wären sie wie geschaffen für den Kirchenraum.

Natürlich kommen Bäume nicht nur durch Todesfälle in die Kirche. Sehr beliebt ist auch, sie abzugeben, wenn sie den ursprünglichen Besitzern im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf wachsen. Wie schön sind doch die Gummibäume – bis sie für die Wohnung einfach zu groß geworden sind. Kratzt der Baum an der Zimmerdecke, wird er eben in der Kirche entsorgt. So kommt es, dass im Lauf der Zeit die Kirche immer grüner wird. 

Der Mesner bekommt inzwischen drei zusätzliche Wochenstunden bezahlt, um in dieser Zeit die Pflanzen gießen zu können. Ferngesteuerte Kleinsthubschrauber verstreuen Dünger und Pflanzenschutzmittel in der Kirche. Die ersten Vögel nisten in der Birke vor der Kanzel und laden zum bildlichen Predigen über die Taube und den Heiligen Geist ein. Ein Eichhörnchen springt von Ast zu Ast, verbuddelt Nüsse in der Orgel. Ein Baummarder lauert ihm auf und versucht, es zu erwischen. Unter dem Altar versteckt sich scheu ein Fuchs und beobachtet sowohl den Marder als auch die Rehe, die neben der Kanzel grasen. Eine Hasenfamilie hat sich zwischen der zweiten und dritten Bank links eingenistet. Alle paar Monate wird die Kirche für Baumfällarbeiten gesperrt, der Gewinn aus dem Holzverkauf dient zur Renovierung des Jugendhauses. Dort finden nun übrigens auch die Gottesdienste statt, da man in der Kirche vor lauter Vogelgezwitscher kaum mehr etwas versteht. Der Spruch „Gott finde ich auch im Wald“ bekommt eine ganz neue Bedeutung. Mittlerweile veranstaltet der Bund Naturschutz Vogelstimmenwanderungen in der Orgel. Auf der Kanzel wurde angeblich ein Braunbär gesichtet. Doch gepredigt hat er nicht.

Oder ist nun doch nur meine Phantasie mit mir durchgegangen? 

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