Ich muss gestehen: Ich war auch ein wenig skeptisch, was sich unser Team von evangelisch.de da wieder ausgedacht hatte. Letztes Jahr schon gab es Online-Andachten, damals irgendwann frühmorgens, zu einer Zeit, wo ich wirklich anderes zu tun hatte. Doch dieses Jahr, in der Passionszeit, gibt es im Chat von evangelisch.de jeden Donnerstag um 21:30 Uhr eine Passionsandacht – aufgrund der aktuellen Ereignisse mittlerweile umbenannt in Fürbittandacht.
Irgendwann kam dann die Mail von Ralf Peter Reimann von evangelisch.de, ob ich nicht Lust hätte, bei dieser Aktion mitzumachen. Ehrlich: Bei solchen schrägen Sachen kann ich einfach nicht nein sagen. Das musste ich ausprobieren und sagte zwei Andachten zu.
Vor einer Woche nahm ich zum ersten Mal als „einfacher“ Teilnehmer daran teil. Abgehetzt kam ich gerade noch pünktlich von einer Teambesprechung und hatte 35 Minuten Zeit, um meinen letzten Bus nach Hause noch zu erwischen. Im Hinterkopf der Gedanke: „Na ja, ich kann ja nebenher noch ein paar Sachen erledigen, vielleicht gleich das Protokoll verschicken, Hauptsache, ich weiß mal, wie das läuft.“
Aus dem Protokoll verschicken wurde an diesem Abend nichts. Denn: Die Andacht im Chat entpuppte sich als erstaunlich intensiv. Eigentlich kann man das gar nicht beschreiben, man muss es erlebt haben. Für mich, der ich immer die Beteiligung der Gemeinde für etwas ganz Zentrales am Gottesdienst gehalten habe, ging hier ein Traum in Erfüllung: Zwar gab es durchaus eine Person, die die Andacht leitete und jeweils die nächsten Punkte anstieß. Aber jede und jeder hatte zu jeder Zeit die Möglichkeit, sich mit eigenen Äußerungen einzubringen.
Und das taten sie auch: Ein Großteil der Andacht bestand aus Klagen, Bitten, Gebeten, die die Teilnehmenden selbst formulierten. Dafür war Platz und Zeit, und alle achteten aufeinander. Wunderschön.
Gewöhnungsbedürftig das Vaterunser: Einer schreibt Zeile für Zeile vor, die anderen tippen es ab. Und doch eine intensive Erfahrung, wenn da fünfzehn Mal die Zeile „sondern erlöse uns von dem Bösen“ steht. Ein bisschen ungeduldig wurde ich, denn ich hatte noch acht Minuten bis zum Bus (vier brauche ich im Laufschritt zur Haltestelle). Als würde es etwas nützen, tippte ich immer gleich die nächste Zeile ins Chatfenster und wartete mit dem Absenden, bis die Leitung diese Zeile auch geschrieben hatte. Aber es half nichts: Auf den Segen am Schluss musste ich wohl oder übel verzichten. Und, ja: Er fehlte mir. Es war ein richtiger Gottesdienst für mich, mit einer sehr intensiv empfundenen gottesdienstlichen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ohne den gemeinsamen Segen zu verlassen, war wie ein Musikstück, das kurz vor dem Schlussakkord abgebrochen wird.
Gestern nun also: Meine Premiere. Die ersten trudeln schon eine halbe Stunde vorher ein, während ich noch meine Kinder ins Bett bringe. Ich habe mir links den Browser, rechts die Textverarbeitung platziert. Und das mit dem Copy&Paste auch schon mal geübt. Der Text, den ich schreiben will, ist in kleine, gut verdauliche Absätze gegliedert, die ich nach und nach poste. Ein kurzer theologischer Impuls und ein Psalm am Anfang. Ich komme mir vor wie ein Diskjockey oder so was: Rechts kopieren, links einfügen, Enter. Wie lange warten? Ich zähle mal bis zehn. Rechts kopieren, links einfügen, Enter. Warten? Oder nicht? Rechts kopieren, links einfügen, Enter.
Schnell merke ich: Auch wenn ich nur einen wirklich ganz kurzen theologischen Impuls setzen wollte – für eine Chat-Andacht ist es beinahe zu lang. Die Leute, die hier sind, wollen sich beteiligen. Ob da Formen des Bibliologs möglich sind? Für heute bleibe ich bei meinem Konzept. Rechts kopieren, links einfügen, Enter. Warten? Keine Ahnung. Rechts kopieren, links einfügen, Enter.
Dass die Teilnehmenden wirklich dabei sind, merke ich dann: Die Klagen, die Fürbitten, sie gehen unter die Haut. Eine ernste Angelegenheit ist das: Das Web 2.0 ist nicht nur oberflächliche Kommunikation, sondern kann auch sehr sehr eng, persönlich, ergreifend werden. Und dann wieder ich: Rechts kopieren, links einfügen, Enter. Nach den Fürbitten vergesse ich doch glatt das rechts kopieren und füge die Aufforderung zum Gebet nochmal ein. Ups, schnell weiter im Text. Rechts kopieren, links einfügen, Enter.
Das Vaterunser. Wie gut, dass ich in der Teilnehmerliste sehe, wer gerade noch was tippt. So weiß ich ziemlich genau, wann alle fertig sind und ich die nächste Zeile des Gebets „anstoßen“ kann. Nur zwei sind dabei, die es offensichtlich genau so machen wie ich letzte Woche und schon im Voraus die folgende Zeile schreiben. Nun ja, mit der Zeit habe ich den Dreh raus.
Nun noch den Segen. Diesmal bin ich dabei, und irgendwie doch nicht: Rechts kopieren, links einfügen, Enter.
Amen. (Und alle so: „Amen.“)
Eine gute halbe Stunde hat die Andacht gedauert. Ich tippe noch [Orgelnachspiel] in den Chat, um der Musik auch ihren Raum zu geben. Wir plaudern wie beim Kirchencafe nach dem Gottesdienst. Ein Jugendlicher beschwert sich, dass da ja gar kein Kirchenschlaf möglich ist – der Konfirmanden-Gottesdienst-Modus mit geschlossenen Augen funktioniert hier nicht. Nach und nach verabschieden sich alle. Ich habe das Gefühl, sie jetzt viel näher kennen gelernt zu haben, obwohl ich sie zum Teil noch nie gesehen habe.
Nächstes Mal mache ich eines anders: Da werde ich meine Texte nicht kopieren, sondern live eintippen. Rechts schauen, links tippen, Enter. Ich glaube, das gibt mir mehr Nähe zum Geschehen. Ich freue mich schon darauf. In zwei Wochen bin ich wieder dran. Bis dann!