epd: Der Zweite Weltkrieg endete vor 80 Jahren. Wie können sich unbewusst weitergegebene Kriegstraumata bei den nachfolgenden Generationen äußern?
Mari Böhrk-Martin: Die schlimmste Art und Weise, wie unverarbeitete traumatische Erfahrungen weitergegeben werden, ist das beredte Schweigen. Es gibt viele alte Menschen, die nicht über ihre schrecklichen Erfahrungen im Krieg, auf der Flucht, in der Vertreibung sprechen. Oder über das Ankommen in der neuen, kalten Heimat, wo sie nicht willkommen waren, weder in Ost noch in West.
Die erlebten Schrecken konnten aber auch zu cholerischen Wutausbrüchen führen oder dazu, dass einige Eltern ihre Kinder schon von früh auf tagtäglich mit den Kriegserfahrungen malträtierten. Bleibt das Erlebte unbearbeitet, kann das bei nachfolgenden Generationen beispielsweise dazu führen, dass sie das Gefühl haben, immer am Rand zu stehen und nicht wirklich dazuzugehören. Oder dass jemand seine eigenen Grenzen nicht richtig wahren und schützen kann oder immer "auf der Flucht" ist und ständig umzieht.
In meine Praxis kommen immer wieder Frauen, die sagen: Ich weiß gar nicht, wer ich bin und was ich eigentlich bin. Aber ich weiß, dass ich immer versucht habe, für meine Mutter da zu sein. Und für mich ging die Sonne auf, wenn meine Mutter glücklich war und ich das mal irgendwie geschafft habe. Aber meistens habe ich es nicht geschafft.
Welche Emotionen, die tief im kollektiven Gedächtnis stecken, konnte der Ukraine-Krieg aufwühlen?
Böhrk-Martin: Angst. Schrecken. Panik davor, dass ein neuer Krieg ausbrechen wird. Viele Menschen kriegen Albträume und sind von Ängsten heimgesucht, die schwer zu steuern sind im Alltag.
Und die Corona-Pandemie?
Böhrk-Martin: Ich finde es erstaunlich, dass auch jüngere Menschen in der Zeit wie panisch Lebensmittel eingekauft haben, die zum Grundbedarf gehören, wie etwa Mehl und Zucker. Klopapier war ausverkauft.
Meine Theorie ist, dass diese schrecklichen Hungererfahrungen der Vorfahren in den Hungerwintern 1945/1946 - die hatten ja zum Teil Schuhsohlen ausgekocht, um überhaupt irgendwas potenziell Nahrhaftes zu haben - seelisch wieder aufgestiegen sind und zu Panikkäufen führten.
Wie kann die Traumaweitergabe in der Familie durchbrochen werden?
Böhrk-Martin: Das ist nicht so einfach. Ich muss erstmal erkennen und akzeptieren, dass ich bestimmte Macken habe, beispielsweise ein diffuses Selbstbild, Beziehungsschwierigkeiten oder schon 22 mal umgezogen bin und nirgendwo richtig ankomme. Hinter diese Macken zu schauen, dabei kann das Lesen hilfreich sein. Es gibt unglaublich viel Literatur dazu.
Der zweite Schritt ist, zu schauen, was mit meinen Vorfahren war. Was haben die während des Krieges gemacht? Gehörten sie zu den Mitläufern, zu den Naziverbrechern oder einfach zu den Zuschauern? Das ist wichtig für die Verarbeitung von eigenen Emotionen und vor allem von der ungeliebten Trauer.
Um Lebenskraft und Selbstbestimmung zu gewinnen, kann es helfen, nicht mit dem Schicksal zu hadern und endlich mit den Scham- und Schuldgefühlen aufzuhören. Die Kriegskinder und -enkel waren nicht schuld an diesem verdammten Krieg. Aber wir tragen die Verantwortung dafür, dass so etwas nicht noch mal passiert. Und natürlich kann man tun, was heute jeder psychologische Ratgeber empfiehlt: Aufmerksamkeit für sich selbst, sich selber Gutes tun. Geduldig und gewährend mit sich zu sein. Freundlich.
Die evangelische Theologin und Traumatherapeutin Mari Böhrk-Martin (70) aus Lübeck macht Seminare und Workshops, auch zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Am 1. April wird sie an der Volkshochschule Rostock einen Kurs geben zum Thema "Kriegsspuren in der Seele? 'Kriegsenkel' und ihre Suche nach Selbstbestimmung und Lebenskraft". Dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte sie vorab, wie sich unbewusst weitergegebene Kriegstraumata äußern können und wie man sich davon befreien kann.