Zusammenhalt ist auch ein Wehrturm

Geistvoll in die Woche
Zusammenhalt ist auch ein Wehrturm
... und nicht für alle. Wie geht es den Menschen in Magdeburg, einen Monat nach dem Anschlag? Eine Stadt zwischen Misstrauen, Angst und Gemeinsamkeit.

Der Oberarzt steht im OP. Ein Massenanfall an Verletzten. Es ist der 20. Dezember, nachts. Alle sind sie gekommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie stehen die halbe Nacht im OP. Das kleine Krankenhaus kommt an seine Grenzen. In viele Krankenhäuser haben sie die Verletzten verteilt, auch in das kleine Krankenhaus im Norden. Mittendrin, erinnert der Arzt sich später, piepst es auf seinem Handy. Er rettet gerade Menschenleben und richtet Verletzungen. Die Nachricht leuchtet später grell auf seinem Display: Bist Du der Täter?… fragt eine Bekannte. Wie es ihn tief erschüttert habe, schreibt er und wie sich augenblicklich die Last des Misstrauens auf ihn legte. 

Schon am nächsten Tag werden sie in Magdeburg Menschen mit ausländischem Aussehen bespucken und beschimpfen, verfolgen und angreifen. Menschen aus den migrantischen Communities beschreiben, wie sie Angst haben, mit der Bahn zu fahren, jemanden zu besuchen, der außerhalb wohnt, wie sie Angst haben, zur Arbeit das Haus zu verlassen und einkaufen zu gehen, wie sie sich verabreden, um nicht alleine zu gehen und andere für sich einkaufen lassen. Wie Hakenkreuze an Türen geschmiert und ihre ausländisch klingenden Namen auf den Namensschildern übermalt werden. Eine sagt: „Magdeburg ist jetzt wirklich ein Ort, an dem man Angst vor den Menschen hat.“ Viele von ihnen gehen übrigens als Neu-Magdeburger*innen Blut spenden für die Opfer des Anschlags.

Einen Monat später. Das wäre Täter-Opfer-Umkehr sagt er zu mir, ich solle nicht unbedingt jetzt die Kontakte zur muslimischen Community pflegen. Ich verstehe erst später, dass er mit Tätern 'die Muslime' meint und dass meine Kontaktaufnahme aus diesen 'Tätern' dann Opfer machen würde. Seine Worte erschüttern mich. Die 3 Minuten an einem Freitag in Magdeburg reißen eine weitere Deckschicht vom alltäglichen Rassismus und von der kaum mehr verborgenen Bereitschaft, die als Fremde Verstandenen preiszugeben. 

Dieses Land ist die Heimat meiner Kinder“, schreibt der Oberarzt, der mit Vornamen Saleh heißt und an jenem Freitag im OP stand. „… und es ist unsere gemeinsame Zukunft“, schreibt er. „Ich wünsche mir, dass wir füreinander einstehen… dass wir einander zuhören, anstatt uns voreinander zu fürchten."

Einen Monat später. Die Regionalbahn kommt in Magdeburg an, um mich herum steht die ganze Welt. Menschen aus sichtbar viele Kulturen. Geduldig stehen wir bis der Zug hält und die Tür sich öffnet. Magdeburger*innen beim nach-Hause-kommen eben. Vor dem Bahnhof verlieren sich unsere Wege in alle Richtungen. Zurück in die Communities. Zurück in den Rückzug. Zurück in weitgehend unverbundene Welten. Wir haben noch nicht gut genug gelernt, zusammen zu leben, andere Regionen in Deutschland sind uns sichtbar 40 Jahre voraus. Noch sind unsere Kinder nicht verheiratet und noch sind Menschen of color außer in Personalmangelberufen nicht sichtbar in unserer Normalität - als Mathelehrerin, Kindergärtner, Polizist oder Geschäftsführerin. 

Einen Monat später. Das dieser Tage für Magdeburg meistverwendete Wort in den Reden der vielen Politiker:innen: des Bundespräsidenten, der Landräte, Präsidenten und Oberbürgermeisterinnen ist das Wort 'Zusammenhalt.' Und ja, es berührt mich, denn es stimmt. Wie eng, kraftvoll und wohltuend die Menschen zusammen rücken in diesen Tagen. Und nein, es regt mich auf, denn Zusammenhalt meint eben nicht alle. Zusammenhalt ist auch ein Wehrturm. 

Einen Monat später, 16. Januar. Wieder der Alte Markt. Tatort für das Attentat. Das Glockenspiel des Rathauses beginnt eine Melodie zu schlagen. Hunderte Menschen "aller couleur" stehen auf dem Markt. Ding. Ding. Dingdong. Ding… klingt es über den tiefstillen Markt. Da! Eine:r beginnt leise die Melodie des Glockenspiels mitzusummen: „Amazing Grace…" Nach und nach stimmen alle ein. Summen mit ihren Kerzen in der Hand. Summen nur mit verschlossenem Mund. Tiefstill. Weil es ihnen Mut macht. Denn weißt Du: Magdeburg ist auch die Stadt, die jedes Jahr im Januar, zum Jahrestag der Zerbombung, die Magdeburg in Schutt und Asche legte, eine Stunde lang Friedenslieder singt. Eine Stunde. Nur Friedenslieder. Bei Minusgraden. Unerschütterlich. Und zusammen. 

 

Das ist kein Happy End. 

Das alles ist die Lage hier.

 

#challenge für uns alle: Zusammenhalt neu verstehen

 

 

(Dank an Saleh B.S. für die guten Worte.)

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