Kleine, große Fluchten

Geistvoll in die Woche
Kleine, große Fluchten
November: Wer hat den Monat bloß erfunden?

Wahlen in den USA, morgen. Und hoffen, dass Trump untergeht; da sind sich alle einig, die ich kenne. Krieg im Nahen Osten. Und streiten, denn da ist sich niemand einig mehr. Die Gespräche brechen ab, verstummen, wenn ich sage, was ich denke, dass ich die Ursache und die Wirkung nie verwechsele. AfD-Verbotsdebatte, wieder streiten. Das bringt doch nichts, die werden sich bloß als Märtyrer gerieren; selbst wenn, entgegne ich, wir müssen es versuchen, die Demokratie muss wehrhaft sein; da ist die nächste Diskussion zu Ende. Am besten man spricht gar nicht über Politik. Gerade jetzt, in diesem dunklen Monat mit seinen kurzen Tagen und den langen Nächten, die immer kürzer, länger werden.

Wer hat den November nur erfunden?

Allerheiligen. Allerseelen. Die Lebenden besuchen ihre Toten. Mit Kerzen, Kränzen, Blumen und mit Tränen. Wir singen in der Kirche vor den Kerzen und auf dem Friedhof Friedhofslieder. Wohl denen, die da wandeln vor Gott in Heiligkeit … Christus, der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn … Mit Weihrauch und Trompeten. Es ist, wie Erich Kästner es beschrieb: Was man besaß, weiß man, wenn man’s verlor. Es regnet, Freunde. Und der Rest ist Schweigen. Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor. Und der November trägt den Trauerflor. Wir singen trotzdem, gottbefohlen. Damit aus unsrem Trotz ein Trost erwachse. 

Wer hat sich diesen Monat bloß erdacht.

Fünf Jahre. Fünf unvorstellbar lange Jahre ist es her, dass Gregor S. aus Rheinland-Pfalz nach Berlin gereist ist und sich ein Messer kaufte. Und in die Schlosspark-Klinik fuhr. Und tötete. Wegen der Sippenhaft. Alles ist da, zu nah. Die Tat und der Prozess. Der Täter, der mit gegenüber sitzt, von Angesicht zu Angesicht. Da ist kein Gott. Denn nichts wird jemals wieder gut.

Der November gehört aus dem Verkehr gezogen.

Doch ich will widerstehen, will nicht untergehen. Ich werde nicht das Handtuch werfen. Dafür habe ich meine Mittel, meine kleinen, großen Fluchten. Die kleine ist das Lesen. Hasenprosa, Papstwahl-Krimi und die Druckfahne fürs nächste Buch. Die große ist Musik. Konzerte hören, Bruckner im Alten Peter, Igor Levit in der Isarphilharmonie. Vor allem aber selber singen. Gerade jetzt Bachs Weihnachtsoratorium. Proben, jeden Mittwoch. Und so tun, als sei die triste Zeit vorbei, als leuchtete der Morgenstern, als sei der Heiland schon gekommen, uns zu retten.

Musik trägt mich davon, heraus aus dem November, hinein in eine Welt, die es nicht gibt. In mein Himmelswunderland mit lauter bunten Notenwölkchen, auf denen ich herumspaziere mit denen, die mir fehlen. Dort triumphiere ich, dort singe ich gegen den dunklen Monat an, gegen die raue Welt der Politik und gegen alle Traurigkeit:

Ehre sei dir, Gott, gesungen,
Dir sei Lob und Dank bereit'.
Dich erhebet alle Welt,
Weil dir unser Wohl gefällt,
Weil anheut unser aller Wünschen gelungen,
Weil uns dein Segen so herrlich erfreut.

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