Neulich waren wir auf dem Brauneck, einem wunderschönen Berg in Oberbayern. Schnee lag, die Sonne schien. Es war ein prachtvoller Tag. Oben angekommen trafen wir auf ein paar Skitourengeher. Sie kamen, mit Fell unter ihren Skiern, berührten das Gipfelkreuz, machten Rast. Entfernten die Felle und fuhren davon. Einer blieb noch ein Weilchen. Mit uns. Er hatte den Deckel seiner Trinkflasche verloren, wir suchten zusammen und fanden ihn wieder. Wir lachten und kamen ins Gespräch. Wir sprachen lange. Über Dankbarkeit. Wir hatten über den Krieg in der Ukraine und das Erdbeben in der Türkei und in Syrien geredet, über die vielen Toten, die Verwundeten, die Obdachlosen und die Kälte dort. Darüber, wie tapfer die Menschen dort sind. Und wie viele bei uns über Kleinigkeiten jammern im Verhältnis zum Krieg und zum Erdbeben. Wie dankbar wir stattdessen sein könnten. Es war ganz still da oben am Berg. Ganz leise wurde nach und nach auch unser Gespräch, während unsere Blicke über das Alpenpanorama schweiften. Fast flüsternd.
Es war wie ein Gebet.
Seitdem denke ich immer wieder daran zurück. Ich denke überhaupt viel übers Beten nach. Nicht nur, wenn es ums Vaterunser geht, über das ich ein Buch geschrieben habe. Sondern oft darüber hinaus.
Wie soll man auch beten können in Anbetracht der Katastrophen? Und was? Worum kann ich Gott bitten, außer um Frieden, der partout nicht einkehren will? Wie oft bin ich sprachlos angesichts der Lage der Menschen in den drei Ländern. Und, ja, auch beschämt. Beschämt, dass ich das Glück habe, in einem friedlichen Land zu leben. Dass ich mich unverdient glücklich schätzen darf.
Ein Jahr und drei Tage dauert der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine schon. Acht Millionen Menschen sind inzwischen geflohen. 100.000 ukrainische und 180.000 russische Soldaten sind Schätzungen zufolge gefallen, mindestens 8000 Zivilisten ums Leben gekommen. Mehr als 50.000 Menschenleben hat das Erdbeben in der Türkei und in Syrien gefordert. Ehrenamtliche haben in den Trümmern zerstörter Gebäude und Straßen in der türkischen Provinz Hatay rote, blaue und rosafarbene Luftballons angebracht, einen für jedes tote Kind. Sie befestigten die Ballons an Kabel und Metallteile, die aus der Erde ragen. Es ist ein Projekt des Fotografen Ogun Sever Okur. "Mein letztes Geschenk an die Kinder" nennt er es. Es ist herzzerreißend.
Oben, am Gipfelkreuz, da fiel mir das Beten leicht. Da gab es Frieden und Weite und Licht. Vielleicht lag es ja am Kreuz. Und an der Nähe zum Himmel. Auf dem Brauneck, wo ich sah, wie klein ich bin. Und wie groß Gott ist.
Daran werde ich denken, wenn ich wieder beten will und keine Worte finde. Daran will ich mich erinnern – gerade während der Fastenzeit. In der Zeit des Innehaltens und der Stille. In der Zeit des Sich-Besinnens und der Demut. Dass ich mit Gottes Hilfe beten kann. Und glauben darf. Dass ich glaube an Auferstehung und das ewige Leben. An die Überwindung des Todes.
Vierzig Tage will ich auf Gottes Wort hören, auch wenn ich ahne, dass ich es nicht schaffe. Eines aber weiß ich ganz gewiss: In meinen Gebeten ist Gott bei mir, auch wenn mir die Worte fehlen. Denn er vergisst mich nicht.
Ob oben am Gipfelkreuz oder unten in Nymphenburg.