Als das Seenotrettungsschiff SEA-EYE 4 im April 2021 zu seiner ersten Mission auf dem Mittelmeer auslief, da wehte die Flagge groß und stolz und sonnenwarmgelb am obersten Mast. Sie war stabil umsäumt. Auf ihr schwarz gedruckt das Papierschiffchen-Logo und der Schriftzug UNITED4RESCUE Gemeinsam Retten e.V.
Bei ihrem ersten Einsatz im Mai rettete die SEA-EYE 4 und ihre Crew über 400 Menschen, 150 davon Kinder.
Nachdem das Schiff lange festgesetzt war, rettete es im September 29 Menschen, darunter 4 Babys und zwei hochschwangere Frauen.
Im November waren es bei einem einzigen Einsatz fast 850 Menschen.
Im Dezember über 200.
Die Flagge immer ganz oben am Mast: UNITED4RESCUE Gemeinsam Retten e.V.
Jetzt ist die SEA-EYE 4 wieder im Hafen, sie wird überholt. Und die Flagge ist abgenommen und wurde nach Deutschland geschickt.
Sie ist nicht mehr sonnenwarmgelb, sondern ausgeblichen schwefelfarben. Die Schrift ist bleigrau geworden. Die Nähte sind im Sturm, im Regen, im blendenden Licht und dem Salz in der Luft eingerissen und haben sich aufgelöst. Ein ganzes Stück ist einfach nicht mehr da. Mehr als das halbe Wort „Retten“ ist verschwunden. Der Rand zerzaust und zerfetzt.
Gorden Isler, der Vorsitzende von Sea-Eye e.V., schreibt: „Sie riecht etwas muffig. Gar nicht nach Mittelmeer. Vermutlich ist die Vorstellung vom Mittelmeer einfach zu romantisch und dann wundert man sich, dass die Flagge nicht nach Sonne, Urlaub und frischem Wind duftet. Sie riecht halt so, wie es tatsächlich riecht, wenn man auf dem Schiff ist. So riecht das, was wir tun. Es riecht nach harter Arbeit.“
Die harte Arbeit, hunderte, tausende von Menschen zu retten. Die harte Arbeit, das Richtige zu tun. Dort draußen. Dort an der Grenze.
Ich streiche mit der Hand über die Flagge. Über ihre Flächen und ihre Fetzen. Vorsichtig. Ehrfürchtig. Ich rieche an ihr. Denke an das Schiff und seine Crew. Die geretteten Menschen. Ich denke an die Spuren, die es hinterlässt, das Richtige und Notwendige zu tun. Nicht auszuweichen.
Würde mich eine fragen, woran ich jetzt grade am allermeisten glaube, was mir das Heiligste ist - dann wäre es wohl das:
Ich glaube:
Es gibt etwas, das weicht nicht aus vor dem Schmerz.
Lieber lässt es sich zerfetzen und zerschleißen als zuzulassen, dass welche untergehen.
Es gibt so etwas. Und danach ist es immer noch da. Nicht strahlender, nicht schöner, aber heiliger und wahrhaftiger als zuvor.
Manchmal nenne ich dieses Etwas G*tt oder: Jesus. Manchmal Menschlichkeit. Manchmal ahne ich wie von fern etwas davon in mir selbst. Und dann wieder in anderen. Es ist verletzt und es ist frei. Es ist immer größer als eine einzelne.
Es gibt so etwas - und ich glaube, dass es die Antwort ist auch auf die eingerissenen Säume meiner Seele - und womöglich die der ganzen Welt.
Wochenaufgabe:
An einer winzigen Stelle nicht ausweichen. Warten, was passiert.