Warten auf einen sicheren Hafen

Warten auf einen sicheren Hafen
Menschen eng aneinander gedrängt
epd/Thomas Lohnes
Seit gut einer Woche wartet die "Sea-Watch 4" auf einen sicheren Hafen. Mit rund 200 Menschen an Bord ist der Platz an Bord begrenzt
Die "Sea-Watch 4" ist mit 200 Menschen an Bord fast voll. Ein sicherer Hafen in Europa ist angefragt. Die Stimmung an Deck schwankt zwischen ausgeglichen und angespannt, schreibt Constanze Broelemann. Sie ist für evangelisch.de an Bord des Bündnisschiffes.

Vor gut einer Woche war die erste Rettungsaktion der "Sea-Watch 4". Seitdem sind zwei weitere Rettungen geschehen, die Crew versorgt inzwischen mehr als 200 Menschen. Die "Guest Care", also das "Sich-Kümmern" um die Flüchtlinge, fordert von der Crew höchsten Einsatz. Größenteils ist die Stimmung ausgeglichen. Allerdings kommen hier und da immer wieder Spannungen auf.

Die ganz große Erschöpfung nach der Rettung ist überstanden. Viele der West- und Ostafrikaner, die wir an Bord haben, konnten sich einigemaßen erholen. Der Tagesablauf ist fest strukturiert. Täglich kocht die Crew in wechselnden Schichten kiloweise Reis oder Couscous mit unterschiedlichen Zusätzen wie Bohnen oder Erbsen. Das Rühren in den 12-Liter-Töpfen ist Schwerstarbeit. In der kleinen Gästeküche auf dem Achterdeck steht die Luft. Der Schweiß rinnt beim bloßen Stehen.

Etwa vier Stunden gehen pro Mahlzeit drauf. Jede Nacht müssen mindestens zwei Crew-Mitglieder die Decks mit den Flüchtlingen überwachen. Langsam zehrt der Schlafmangel an dem einen oder der anderen. Auch wir als Journalisten sind als "embedded", also komplett als Crew-Mitglieder in alle Aufgaben des täglichen Lebens und allen Operationen des Rettungsschiffes integriert. Das bringt auch eine gewisse Abhängigkeit mit sich. Wir sind eben wortwörtlich in einem Boot auf dem Mittelmeer zwischen Malta und Italien.

Constanze Broelemann hilft bei der Essensausgabe an Bord.

Spannungen zwischen den Nationen und Kulturen

Neben Ost- und Westafrikanern haben wir sieben Nordafrikaner, konkret Libyer an Bord. Unter ihnen kommt es vermehrt zu Spannungen. Einmal, weil die Ost- und Westafrikaner Libyen und alles, was mit diesem Land zusammenhängt, mit Folter und Unmenschlichkeit assoziieren, andererseits, weil hier unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Mein Crew-Kollege Arnaud, der hier an Bord auch dafür zuständig ist, kulturelle Konflikte zu schlichten, erklärt mir das genauer: Während die Libyer, die wir an Bord haben, gerne früh schlafen gehen und ebenso gerne früh aufstehen, sind andere Kulturen, die wir an Bord haben, daran gewohnt sich vor dem Schlafengehen noch zu unterhalten.

An Bord treffen unterschiedliche Gewohnheiten der Menschen aufeinander.

Eine kritische Zeit sei also immer nach dem Abendessen und vor dem Schlafengehen. Immer wieder kommt es deswegen zu Spannungen, die die Crew lösen muss. Als eine Maßnahme hat man nun die libyschen Männer von den anderen separiert und an einen anderen Platz an Deck gebracht. Keine einfache Sache, denn der Platz hier an Bord der "Sea-Watch 4" ist für alle begrenzt. Man begegnet sich unweigerlich. Inzwischen werden die Wasservorräte knapp, das heißt, dass wir als Crew mehr Süßwasser konsumieren als das Schiff produzieren kann. Einmal duschen pro Tag muss ausreichen, was bei der Hitze und der Anstrengung nicht unbedingt eine freudige Nachricht ist. Trotz allem gibt die Crew nach wie vor vollen Einsatz, vielleicht auch jetzt schon über manche eigene Grenzen hinaus.

Die letzten Tage haben mir auch die Möglichkeit gegeben mit einigen der neuen Gäste an Bord zu sprechen. Jede Geschichte ist ein bisschen anders. Gemeinsam sind ihnen unfassbar gewaltsame Erfahrungen. Exemplarisch erzähle ich an dieser Stelle die Geschichte von Achille, seiner Frau Petronille und ihrem Sohn Gabriel Nathan, wie diese sie mir an Bord der "Sea-Watch 4" erzählt haben. Die Familie ist in der presbytarianischen Kirche. Petronille versucht jeden Morgen um sechs Uhr an Bord zu beten. Bis heute dankt sie Gott, dass die "Sea-Watch 4" sie und ihre kleine Familie aus dem Meer gerettet hat.

Zur Prostitution gezwungen

Geflohen ist sie mit ihrem Mann aus Kamerun, weil in der Stadt Bamenda, aus der sie kommen, ein Genozid herrscht. Der Konflikt entzündete sich zwischen den frankophonen und anglophonen Einwohnern. Aufgrund des Genozids hat Achille bereits seine Eltern verloren. Weil Achille und seine Frau damals nah an der nigerianischen Grenze lebten, flohen sie in das Nachbarland. Dort angekommen, bot ihnen eine nigerianische Frau ihre Hilfe an. Sie brachte die beiden in ihrem Haus unter und offerierte Petronille die Möglichkeit in einem Restaurant zu arbeiten. Denn die kleine Familie wollte Geld sparen, um weiter zu kommen - nach Oran, einer Stadt in Algerien.

So war ihr Plan. Doch dann kam es anders und die erst scheinbar freundliche nigerianische Frau verwies Achille ihres Hauses und sagte ihm, er solle eine Arbeit finden. Petronille war zu der Zeit schwanger, sodass Achille noch dringlicher eine Arbeit finden musste. Er fand sie irgendwo in einer chinesischen Baufirma. Dort schlief und lebte er zugleich und konnte seine Frau bloß über Telefon kontaktieren. In der Zwischenzeit wollte die nigerianische Frau, bei der Petronille noch wohnte, diese zur Prostitution zwingen. Keine Option für die junge Frau - sie floh zu ihrem Mann mit dem sie dann einige Zeit in einem winzigen Raum in der chinesischen Baufirma lebte.

Achille, seine Frau Petronille und ihr Sohn Gabriel Nathan erzählen ihre Geschichte an Bord der "Sea-Watch 4".

Eines Tages packte die Polizei Achille ohne Grund und verschleppte ihn nach Niger. Das Ganze passierte viermal. Immer wieder brauchte Achille zwei Wochen bis zu einem Monat, um das Geld zusammen zu bekommen und es zurück zu seiner Frau zu schaffen. Inwischen war der kleine Gabriel Nathan auf der Welt. "Nach den Erfahrungen, wusste ich, wir müssen hier auch weg", erzählt Achille. Ein Kameruner half dem Paar mit dem zwei Monate alten Kind nach Adrar, einer Stadt im südlichen Algerien, zu kommen.

Dort arbeitete Achille dann drei Monate lang, ehe die Familie nach ihren Schilderungen wieder gekidnappt und nach Niger zurückgebracht wurde. "Jetzt war mir endgültig klar: Wir müssen nach Libyen und vielleicht nach Europa", erzählt er. Von Niger also machten sie sich auf an die algerisch/libysche Grenze. Das bedeutete, dass sie die Sahara zu durchqueren hatten. "Viele Menschen sterben bei dem Versuch", erzählt mir Petronille. Die Familie brauchte vier Tage und wechselte zwischen Autofahrten und Fußmärschen. Die Strecke der letzten Tage waren nur zu Fuß zu bewältigen. Ausgestattet mit ein wenig Wasser und Nahrung schafften sie es.

Familie erlitt Drohungen und Folter

In Libyen wurden sie per Auto in die Stadt Zawiyya gebracht und lebten dort in einer Community für Schwarze. Auch hier mussten Achille und Petronille wieder weg, weil diese Community für Frauen verboten war. Zu allem Leid wurde die Familie dann in Libyen von den sogenannten "Asma Boys" gekidnappt. Das sind Kriminelle, die sich wie Polizisten kleiden: Sie kidnappen Schwarze, stecken sie in Gefängnisse und erpressen dann Geld von ihnen für ihre Freilassung. Achille, Petronille und der kleine Gabriel Nathan wurdem in ein inoffizielles Gefängnis in Sabrata in Libyen gesteckt. Dort wurden sie gefoltert, Achille wurde der Arm gebrochen, sodass er bis heute nur schwer etwas heben kann. Petronille und ihr Sohn bekamen ungekochte Maccaroni oder gar nichts zu essen. Aßen sie das nicht, gab es Schläge. Achille wurde zur Arbeit ohne Lohn gezwungen.

Eines Tages gelang es Achille auf seinem Weg zur Arbeit aus dem Gefängnis zu fliehen. Ein Freund half ihm nach Zawiyya in eine Moschee zu fliehen, in der er sich versteckte. "Ich hielt mich zwei Wochen lang in der Moschee auf und hatte keinen Kontakt zu meiner Frau", sagt Achille. Währenddessen verschlechterte sich der Zustand des kleinen Gabriels im Gefängnis so sehr, dass man ihn und seine Mutter schließlich freiließ: "Ich habe in der Zeit so viel gebetet. Gott ist meine Hilfe", sagt Petronille. In Libyen konnte die Familie also auch nicht bleiben: "Dort schießen sie grundlos. Einfach nur, weil du ein Handy besitzt und sie es dir abnehmen wollen", erklärt mir Achille.

Petronille dankt Gott täglich für ihre Rettung.

Er hörte von einem Freund aus Mali, dass es die Möglichkeit gibt für 500 libysche Dinar (etwa 307 Euro) einen Platz in einem Boot nach Europa zu bekommen. Bei dem Freund aus Mali konnte die Familie erstmal untertauchen, um bei Freunden und Verwandten per Telefon das Geld für die Überfahrt zu organisieren. Er brauchte knapp sechs Monate bis er das Geld beisammen hatte. Da Malier auch Arabisch sprechen, organisierte der malische Freund die Plätze auf dem Boot für die Familie. "Auch auf dem Boot habe ich immer gebetet, dass uns jemand rettet", sagt Petronille. Wenn sie es nach Europa schafft, will sie gerne wieder in ihrem alten Beruf als Altenpflegerin arbeiten. Achille will seine Fähigkeiten als Automechaniker verbessern. Nach seinen Erfahrungen würde er einem Freund heute raten: "Geh nie nach Libyen". 

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