"Protestantischer Korridor"

Fachkonsultation zum Thema „Sexualität und Gender“ der GEKE
© Kerstin Söderblom
Das Ringen um einen "protestantischen Korridor" ist bei den Themen Sexualität und Gender nicht einfach.
"Protestantischer Korridor"
Letztes Wochenende habe ich ein Arbeitswochenende in Dresden verbracht. Da ging viel um einen „protestantischen Korridor“. Was das bedeutet und was es mit dem Begriff aus sich hat, erzähle ich hier. 

Erste Assoziationen zum Begriff Korridor: Es gibt enge und weite, dunkle und helle, mit verschlossenen oder offenen Türen, sichere und unsichere, solche, die aufatmen lassen, oder die ängstlich machen oder die einschüchtern wie Flure in Krankenhäusern oder Gerichtsgebäuden. Korridore sind soziale Begegnungsräume oder unwirtliche Nichtorte, die nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln riechen. Sie sind Orte mit Rändern und Wänden, die Einschlüsse und Ausschlüsse produzieren.

Aber der Reihe nach. Warum haben etwa vierzig Personen aus 13 europäischen Ländern über Korridore nachgedacht? Und was hat es überhaupt mit einem "protestantischen Korridor" auf sich?

Ich war letztes Wochenende bei einer Fachkonsultation zum Thema „Sexualität und Gender“ in Dresden. Eingeladen hatte die Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE).

Ca. 40 Vertreter*innen verschiedener protestantischer Kirchen in Europa waren anwesend. Sie kamen aus Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, der Schweiz, der Tschechei, der Slowakei, Ungarn und aus diversen deutschen evangelischen Landeskirchen und vertraten unterschiedliche Konfessionen: baptistisch, lutherisch, methodistisch, reformiert, uniert, die Waldenser und Böhmische und Moravische Brüdergemeinden.

Die Teilnehmenden waren wie ich von ihren jeweiligen Kirchen entsandt, um in verschiedenen Arbeitsgruppen und plenaren Sitzungen Rückmeldungen und Verbesserungevorschläge zum vorliegenden Studienpapier zu geben.

Wie war es dazu gekommen? Bei der Vollversammlung der GEKE in Basel im Jahr 2018 wurde beschlossen, einen Studienprozess zu den Themen Sexualität und Gender, Ehe und Familie (und sexualisierte Gewalt) einzuleiten. Dafür wurde eine siebenköpfige Arbeitsgruppe eingesetzt. Die Mitglieder kommen aus Dänemark, Deutschland, England, Italien, der Tschechei und Ungarn und vertreten verschiedene akademische Perspektiven. Der ungarische Vertreter verließ aus persönlichen Gründen die Arbeitsgruppe. In den nächsten vier Jahren wurde ein umfassendes Arbeitspapier von fast 200 Seiten erarbeitet. Der Entwurf wurde Ende 2022 fertiggestellt und nun erstmalig einer Fachöffentlichkeit zur Konsultation vorgestellt.

Ziel des Arbeitspapieres war es, einen verständlichen und interdisziplinären Überblick über die genannten Themen zu geben und Orientierung zu ermöglichen. Es wurden dafür historische, biologische, psychologische, sozialwissenschaftliche, kulturanthropologische und theologische Quellen gesichtet, systematisiert und verdichtet dargestellt. Darüber hinaus wurden auch vertiefende Quellen für die Weiterarbeit zusammengestellt. Auch feministische und queer-theologische Positionen wurden berücksichtigt und in das Arbeitspapier integriert.

Das ist bemerkenswert und überhaupt nicht selbstverständlich. Denn beispielsweise im Bericht der Referenzgruppe zum Thema „menschliche Sexualität“ des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) wurden zwar nach vielen kontroversen Debatten auch die Erfahrungen von LSBTIQ+ Personen in der Referenzgruppe gehört und Antidiskriminierungsgesetze der Vereinten Nationen zitiert. Aber feministische oder queer theoretische Überlegungen fanden keinen Eingang in den Bericht. Zu deutlich ist die Ablehnung oder sogar Verurteilung verschiedener Kirchen weltweit gegenüber diesen Perspektiven (Vgl. “Conversations on the Pilgrim Way. Invitation to Journey on Matters of Human Sexuality”. A Resource for Reflection and Action. Received by the WCC Central Committee at a Meeting Held 9-15 February 2022). Da halfen auch die Maxime der „versöhnten Verschiedenheit“ des ÖRK nicht. Auch das Motto „Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind“ nicht, ermöglichte es nicht, queere Perspektiven in den Bericht einzutragen.

Insofern hat das Studienpapier der GEKE hier eine besondere Bedeutung. Als protestantische europäische Kirchen haben sie trotz aller Verschiedenheit eine gute Gelegenheit, queere Perspektiven sichtbar und kenntlich zu machen, die in einem weltweiten kirchlichen Kontext immer noch ausgegrenzt und verschwiegen werden.

Zielgruppe des Arbeitspapieres der GEKE sind Fachleute in den einzelnen Mitgliedskirchen, die sich im Hinblick auf Personalpolitik, Bildungscurricula, Ethik-Kommissionen, theologische und liturgische Herausforderungen auf das Arbeitspapier beziehen können und es dafür an den je eigenen Kontext anpassen.

Es wurde ein pragmatisches Vorgehen für den Umgang mit den kontroversen Themen gewählt. Statt eine Antwort und eine Lösung für alle Herausforderungen zu finden („one size fits all“), einigte sich die Arbeitsgruppe jeweils auf die Darstellung verschiedener Positionen zu den Themen im Rahmen des bereits zitierten „protestantischen Korridors“.

In dieser Weise wurden traditionelle (konservative) und liberale Positionen, akademisch theologische und freikirchliche und eben auch feministische und queere Positionen aufgenommen und dargestellt, ohne sie zu priorisieren oder zu bewerten. Dadurch ist ein gewisses Nebeneinander von Positionen entstanden. Von welchen Positionen sich die Arbeitsgruppe abgrenzt und die daher außerhalb des protestantischen Korridors liegen, ist dabei leider bisher noch nicht deutlich genug erkennbar geworden.

Kriterien für den protestantischen Korridor werden gleichwohl genannt: Gerechtigkeit, Respekt, Achtung der Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit aller und eine nicht-diskriminierende Haltung in den Auseinandersetzungen. Was in dem Papier fehlt ist ein „Code of Conduct“, also klare Gesprächs- und Verhaltensregeln im Umgang mit kontroversen Positionen und eine Checkliste für "safe(r) spaces", also geschützte und faire Orte für die Diskussion.

Leider hat es sich auch während der Fachkonsultation gezeigt, dass es in der GEKE noch keinen „Code of Conduct“ für den Umgang mit diesen kontroversen Themen gibt. Prompt hat ein Feedback-Impulsgeber die eigene Position nicht als subjektiv gekennzeichnet, sondern von einer scheinbar objektiven Machtposition queere Personen beleidigt und verunglimpft. Zugleich hat er die Grundannahmen des Arbeitspapiers in Bausch und Bogen verurteilt, ohne sachlich angemessene Begründungen dafür zu liefern. Ein geschützter Ort für die Diskussion war damit nicht mehr gegeben. Es brauchte einen weiteren Tag, bis von den Teilnehmenden der Konsultation ein vorläufiger „Code of Conduct“ zusammengestellt wurde. 

Dieser Realitycheck unterstrich die Erkenntnis, dass es hilfreich ist verschiedene Positionen im protestantischen Korridor zuzulassen, wenn rote Linien, klare Grenzen und Regeln bekannt sind und diese auch durchgesetzt werden. Dafür ist eine straffe Gesprächsführung und Moderation nötig, die auf der Fachtagung nicht immer gegeben war. Korridore sind eben nur dann Korridore, wenn sie auch Wände und Grenzen haben.

Dennoch hat sich die überwiegende Mehrheit der Anwesenden an die verabredeten Regeln gehalten. Vor allem in den Kleingruppen ist intensiv und konstruktiv miteinander gearbeitet worden. Die Kommentare und Verbesserungsvorschläge wurden gesammelt und schriftlich festgehalten. Im Juni 2023 wird sich die bereits bestehende Arbeitsgruppe eine Woche in Klausur zurückziehen und das Arbeitspapier entsprechend überarbeiten.

Dann hoffe ich, dass auch Positionen von nichtbinären, trans* und inter* Personen noch deutlicher in das Arbeitspapier integriert und intersektional mit den anderen Perspektiven verbunden werden. Dann wird das Arbeitspapier mit Sicherheit einen hilfreichen Überblick über verschiedene Positionen zu den Streitthemen geben können und im Rahmen des "protestantischen Korridors Orientierung bieten.

 

 

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