Manchmal ist die Seele betrübt bis an den Tod. Und während man selbst mit der Furcht ringt, schlafen die anderen um einen herum. Was für eine Diskrepanz in der Szene im Garten Gethsemane, wenn sich Jesus von den Jüngern zurückzieht, begleitet nur von Petrus und den beiden Söhnen des Zebedäus, Johannes und Jakobus. Sie sind der kleine Kreis, von dem er sich (vergeblich) erhofft, dass sie mit ihm wachen.
An manchen Dingen führt kein Weg vorbei. Manchen Ereignissen ist man ausgeliefert, ob man will oder nicht. Das ist die schreckliche Erkenntnis im Garten Gethsemane. Auf sich allein gestellt, mag man sich fragen, warum in manchen Erzählungen (wie im Lukas-Evangelium) der Engel erscheint und in anderen nicht. Was die Bibel auf wenige Tage verkürzt, kann im Leben des Einzelnen sehr lange dauern. Wo einem von mancher Kanzel herab ein „Das muss man aushalten“ doziert wird, wird man als Betroffene, als Betroffener gequält vom Gedanken, wie denn. Die Bibel hat da eine seltsame Botschaft oder genauer gesagt: gar keine, denn der ach so allmächtige Vater hat sich davongemacht, schweigt, als ob ihn das alles nichts anginge. Empathie, Anteilnahme? Da kommt nichts. Und im Kreis der Freunde, in den man sich zurückziehen will, sitzt bereits der Verräter.
Auch das Leben queerer Menschen kennt diese Momente des Verlassenseins, des Unausweichlichen.
Das Coming-out ist so ein Schritt, an dem kein Weg vorbeiführt, wenn man ein halbwegs freies, aufrechtes, selbstbestimmtes Leben führen will. Trotz vieler Veränderungen in vielen Gesellschaften ist es immer noch für die meisten eine Situation mit viel Herzklopfen und sehr viel Angst vor Zurückweisung.
Das Alter, eine chronische Krankheit oder eine Behinderung sind Geschehnisse, Schicksale, denen man nicht ausweichen kann – und an die man mitunter in der queeren Community schmerzlich erinnert werden kann. Dann, wenn man, weil eine Pressekamera in der Nähe ist, auf der CSD-Parade noch als rüstiger Veteran hofiert wird, tags drauf aber keinen Einlass in die Kneipe, in den hippen Club erhält.
Die Geschichte der Homosexuellen kennt die Finsternis von Aids. Wie viele mussten alleine in Krankenhäusern sterben, weil niemand zu ihnen durfte, wie viele wurden von ihren Angehörigen im Moment des Todes und sogar noch beim Begräbnis verleugnet, weil ihnen eine Fassade der Wohlanständigkeit wichtiger war?
Und nun (und eigentlich immer): der Krieg. Die Menschen in der Ukraine – unter ihnen auch Homo-, Transsexuelle. Manche geben sich mutig als Soldaten, manche sind allein, weil sie nicht über ein soziales Netz verfügen, das sie auffängt. Es fallen Bomben, es fehlt an Wasser, Energie, Lebensmitteln. Manche müssen einen Teil ihres wahrsten Wesens verbergen, weil in dem Land, in das sie fliehen konnten, queere Menschen diskriminiert werden. Und wer hört die Rufe all der Menschen in all den anderen Kriegsgebieten der Welt?
Wie oft werden Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans Personen, Intersexuelle, Menschen, die sich als nicht binär wahrnehmen, werden Minderheiten, anders Lebende, anders Liebende weltweit drangsaliert, verhöhnt, verlacht, verfolgt, eingesperrt und ermordet?
Einsamkeit, Krankheit, traumatische Erlebnisse. Es gibt sehr viele individuelle Schicksale, in der Ferne und in unserer Nachbarschaft, die wenig Aufmerksamkeit erhalten. Von manchen erfährt man, weiß, etwa als Angehörige, aber gar nicht was tun (und stellt sich schlafend). Wie viel Diskriminierendes, Übergriffiges findet keinen Platz im öffentlichen Bewusstsein – nicht in der Kirche, nicht in der queeren Community, weil man sich lieber in Erfolgsmeldungen sonnt und in der großen Geste von oben herab verdrängt, was viele im Alltag aushalten müssen.
Die Karwoche und die sie begründenden Erzählungen vom Leben und Sterben Jesu handeln von schmerzvollen Momenten und unausweichlichen Wahrheiten. Die Feiern zu Ostern stehen dafür, die Finsternis zu überwinden, aufzustehen, ins Leben zurückzufinden. Wie das genau geht? Auch hier ist die Bibel kein verlässlicher Ratgeber: Das Grab ist plötzlich leer, einfach so, und davor steht jemand, dem es beliebt, sich als Gärtner auszugeben. In der Rückschau erscheint das Durchgestandene plötzlich selbstverständlich, vielleicht weniger schlimm und man fragt sich, wie man es eigentlich geschafft hat. Soweit sind wir in der Karwoche noch nicht.
Aber wenigstens dies und auch, wenn es nur im Lukas-Evangelium und in der neuen Lutherbibel (Lukas 22,43) lediglich in eckigen Klammern erwähnt wird: „Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.“ Und darum sei zu den oben genannten dunklen, schweren Momenten im Leben auch von queeren Menschen daran erinnert: In den langen Jahren der Aids-Pandemie haben Infizierte viel Solidarität, oft von Menschen, von denen man es am wenigstens vermutet hätte, erfahren. Angesichts eines Krieges versuchen aktuell queere Organisationen jenen in Not zu helfen – mit dem was eben möglich ist. Und manchmal, das ist eben die vertrackte Sache mit diesen himmlischen Stärkungen, erscheinen Engel nicht mit viel Pomp im weißen Gewand und mit Flügeln, sondern in einem Lächeln, einem netten Wort, einer aufrichtigen Geste der Ermutigung und manchmal kapiert man erst hinterher, was sich da gerade getan hat.