Keine Frage, der Heilige Sebastian als Ikone des von einer homophoben Gesellschaft verfolgten Märtyrers darf nicht fehlen in dem Rundgang "Spielarten der Liebe", den das Bode-Museum in Berlin seit September anbietet. Doch ist er nicht das einzige Beispiel, das - bewusst oder unbewusst - die Darstellung von christlichen Soldaten zur Darstellung von, wenn schon nicht offener Homosexualität so doch von Nähe und Zuneigung unter Männern nutzt. So führt der Rundgang auch zu einem kleinen Triptychon aus Elfenbein (10. Jh.), dessen Mittelteil die Vierzig Märtyrern von Sebaste zeigt. Unbekleidet müssen die Männer die Nacht auf einem gefrorenen See verbringen, die Umarmungen spenden Wärme und Trost.
"Der zweite Blick" soll neue und ungewohnte Perspektiven beim Betrachten der Dauerausstellung des Bode-Museums eröffnen. Den Auftakt zu diesem Projekt macht "Spielarten der Liebe", entwickelt in Kooperation mit dem Schwulen Museum. Mit fünf thematischen Zugängen bieten sie die Möglichkeit, oft übersehene oder ignorierte Aspekte der Vielfalt sexueller Identitäten, von gleichgeschlechtlicher Liebe, von offenem oder verheimlichtem Begehren zu entdecken. So zählen etwa die erwähnten beiden Soldaten-Legenden zur Route "In Krieg und Liebe". "Männliche Künstler und Homosexualität" befasst sich mit Werken homosexueller Künstler (wie etwa Michelangelo). Donatellos David mit dem Haupt Goliaths - um nur ein Beispiel zu nennen - verweist unausgesprochen auf die Liebe von David zu Jonatan ("deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist"). Auf "Grenzüberschreitungen" wird man von der Frage nach der nicht immer eindeutigen Zuordnung zu einem Geschlecht geleitet. Letztere Route führt zu einer Darstellung des Heiligen Georg Anfang des 16. Jahrhunderts wie zur um die gleiche Zeit entstandenen Holzfigur der Heiligen Kümmernis (Wilgefortis), jener bärtig-weiblichen Jesus-Imitation, die wiederum auf die tragisch-absurde Legende der Heiligen Lucia verweist: Die bittet, um der Zwangsverheiratung mit einem "Heiden" zu entkommen, Gott um Hilfe, der - in seiner ganzen Unergründlichkeit - ihr einen Bart wachsen lässt.
"Heldinnen der Tugend" widmet sich der Darstellung weiblicher Intimität. Da wird die griechische Jagdgöttin Diana zum "Musterbeispiel für lesbische Liebe" - und die Erzählung vom Jüngling Aktaion, der ihr beim Bade zusah und dafür von den Hunden zerfleischt wurde, fügt sich zu den zahlreichen Darstellungen der Heiligen Margarete. Entschlossen setzt die heiratsverweigernde Frau den Fuß in den Nacken des besiegten Drachen der Lust oder hält ihn schließlich (wie im Altarretabel von ca. 1517) gleichsam als Schoßhündchen an der Leine. "Der Sieg weiblicher sexueller Selbstbestimmung über den Mann", lautet die trockene Analyse des dramatischen Geschehens.
Ein kleines, aber durch seine Zartheit berührendes Detail findet sich auf einem Kasten mit Leben-Jesu-Zyklus aus dem Fränkischen um 1100: Hier ist Maria in einer Umarmung mit ihrer Cousine Elizabeth zu sehen - so sittsam, dass die Auswahl dieses Ausstellungsstücks als Beleg für weibliche Sexualität zunächst etwas überzogen wirkt. Doch ist es in seiner Intimität auch ein stiller Kontrast zu den allgegenwärtigen nackten Nymphen im Museum - die in ihrem ausschweifenden Weisen zweifelsohne für den männlich begehrenden Blick angefertigt wurden.
Neben vielen klassisch-wohlproportionierten Darstellungen von Herkules, Samson und des Kriegsgottes Mars (der auch das oben gezeigte Ausstellungsplakat ziert) nebst Verweis auf deren diversen Affären mit Männern wird man auch zu der Eichenholzfigurengruppe Der Apostel Johannes an der Brust Christi (um 1310) geführt. Die Verehrung des Johannes für Jesus bot nicht zuletzt Nonnen Identifikation mit dem Apostel als "Braut Christi". Heute mag man darin auch die Hochzeit zweier Männer, eine homoerotische Beziehung oder auch einfach nur eine schöne Bromance (nicht-sexuelle, innige Beziehung zwischen zwei Männern) sehen. Mit ihrer Zärtlichkeit und Geborgenheit und Trost spendeten Gestik ist die Figur ein sehr schönes Moment der Ausstellung.
Noch bis Ende November ist die Figurengruppe noch in einer zusätzlichen Gruppierung zu sehen, nämlich im Rahmen der Ausstellung "Kunst aus Afrika" des Bode-Museums. Hier steht das Paar Jesus-Johannes neben einem Ahnenpaar, einer Holzfigur der Dogon, einer Volksgruppe Westafrikas. Das Ahnenpaar ist Teil eines Ursprungs-Mythos, der die Entstehung der Menschen mit der Schaffung von vier androgynen Zwillingspaaren durch den Gott Amma erklärt. Ein spannungsreiches Zusammentreffen, das dem Rundgang "Spielarten der Liebe" temporär eine weitere Perspektive über unseren "westlichen Blick" hinaus verleiht.
"Spielarten der Liebe" ist eine wunderbare Idee und eine unaufdringliche Einladung, sich ausgewählten Objekten der Dauerausstellung des Bode-Museums aus einem anderen, aus einem zweiten Blick zu nähern und zahlreiche Verweise auf Homosexualitäten und verschwimmende Geschlechtergrenzen auch und gerade im religiösen Kontext zu entdecken.
Link: Internetseite des Bode-Museums zu "Der zweite Blick". Dort ist auch ein Ausstellungskatalog (PDF) online und kostenfrei zum Herunterladen. Öffnungszeiten, Eintrittspreise etc. finden sich unter dem Menüpunkt "Besuch planen".