Die Reformation geht weiter

Die Reformation geht weiter
Foto: Matthias Albrecht
Das Kreuz im Herzen weitet sich gen Himmel und Ewigkeit (Lutherrose aus dem Pfadfinderzentrum Donnerskopf).
Der Reformationstag ist kein Gedächtnistag für den Reformator. Viel mehr fragen wir, was seine revolutionäre Theologie für uns im hier und jetzt bedeutet. Gerade auch für homosexuell Begabte birgt diese Glaubenslehre einen enormen Segen.

Feiern Sie Halloween? Dieser heute besonders in den USA verbreitete Brauch, bei dem Menschen ihre Wohnungen gruselig dekorieren, Kinder als Untote verkleidet, Süßigkeiten sammelnd durch die Straßen laufen und Horrorfilme in den Fernsehprogrammen Hochkonjunktur haben, erfreut sich auch im deutschsprachigen Raum immer größerer Beliebtheit. Wenn ich heute Menschen meines Alters oder Jüngere frage, was denn am 31. Oktober für ein Tag ist, dann antworten sie mir größtenteils 'Halloween'. 'Reformationstag' hingegen höre ich immer seltener. Und ich bin mehr als skeptisch, ob die Neueinführung des Reformationstags als gesetzlicher Feiertag, wie jüngst in Niedersachsen geschehen, daran etwas ändern wird. Einige Evangelische Kirchen versuchen hier einen Kontrapunkt zu setzen, indem sie etwa am 31. Oktober Lutherbonbons verteilen oder auf ihren Websites die Frage diskutieren, was Luther wohl zum Halloween-Fest sagen würde. Ich halte diese Aktivitäten als Antwort auf den rasanten Bedeutungsverlust eines der wichtigsten Feiertage der evangelischen Kirche nicht nur für viel zu defensiv, nein, vielmehr offenbart sich in ihnen das eigentliche Problem, das diese Entwicklung begünstigt hat. Der Reformationstag, das ist kein Martin-Luther-Gedenktag, zumindest nicht primär. Martin Luthers Theologie hat der evangelischen Konfession ihre Bekenntnisgrundlagen zu verdanken. Aber sollten wir ihn darum feiern? Ich glaube nicht. Denn Luther zu feiern, das heißt nicht nur einem begnadeten Theologen, Revolutionär und tief gläubigen Christen zu gedenken, es bedeutet auch, einen Menschen zu ehren, der durch antisemitische Äußerungen sowie durch ein heteronormatives Menschen-, Geschlechts- und Sexualitätsbild auffällt. Wer dem jetzt entgegnet, dass Luther eben ein Kind seiner Zeit war, nämlich der des Mittelalters und der frühen Neuzeit, dem gebe ich recht – wobei sich damit vieles erklären, aber längst nicht alles, insbesondere sein Antisemitismus, entschuldigen lässt. Wer war Luther, das ist ohnehin eine Frage, die eher die Geschichtsschreibung kritisch beleuchten sollte. Als hinreichender Anlass für einen evangelischen Feiertag taugt sie nicht. Seine Berechtigung und auch Brisanz kann der Reformationstag für die protestantische Kirche nur darin finden und behalten, dass an diesem Tag nach der Theologie Luthers sowie ihrer Fortschreibung gefragt und deren Bedeutung für die Herausforderungen unserer Zeit eruiert wird. Ganz in diesem Sinne werde ich im heutigen KREUZ&QUEER-Blog betrachten, was die reformatorische Theologie zu einem emanzipatorischen Menschenbild bezüglich Geschlecht und Sexualität beitragen kann.

Die Theologie der Reformation ist eine radikale. Ihr Grundsatz ist es, theologische Überzeugungen immer wieder radikal zu überprüfen. Im Gegensatz zur katholischen Glaubenslehre orientiert sich die evangelische Theologie nicht an der Tradition, sondern hinterfragt Traditionen kritisch. Das Fundament ihrer Kritik ist dabei das in der Bibel bezeugte Evangelium. Ausgehend von diesem Grundgedanken ermächtigt die Theologie der Reformation jene, die für die Gleichberechtigung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Kirche Jesu Christi sowie in der Gesellschaft streiten, jede Tradition der Ausgrenzung, wie etwa das Verbot der Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, auf den theologischen Prüfstand zu stellen. Das ist selbstverständlich leichter gesagt als getan. Es ist nicht einfach, sich in einen teilweise erbitterten theologischen Disput mit Kirchenoberen oder jenen zu begeben, die Ausgrenzung als schützenswerte Tradition betrachten und die denen, die Gleichstellung befürworten, vorwerfen, sich statt vom Heiligen Geist vom Zeitgeist leiten zu lassen. Viele haben das in ihren Hauskreisen, kirchlichen Gremien oder bei öffentlichen Diskussionen bereits erlebt. Aber Martin Luther ist es da nicht anders gegangen, als er die katholische Bußtheologie und den Ablasshandel der katholischen Kirche kritisierte. Seit hunderten von Jahren, sei dies nun so gelehrt worden, wurde ihm entgegen gehalten und nun käme er, dieser kleine, unbedeutende Mönch und erdreiste sich, zu sagen, dass es anders ist - nein, das könne nicht sein. Es ist ein großer Segen, dass Luther sich davon nicht beirren lassen hat. Seine mutige Antwort war der Entwurf einer Theologie der Hinterfragung. Eine Theologie, die wir heute, auch gegen Widerstände, aufgefordert sind, weiterzutreiben. Keine Tradition in der evangelischen Kirche kann ihre Existenzberechtigung daraus begründen, wie lange sie bereits praktiziert wird und wie viele Personen sie für angemessen halten. Wer also etwa die Ausgrenzung gleichgeschlechtlicher Paare fortführen will, der muss sich der Konfrontation mit queer-theologischen Erkenntnissen stellen und darf den Widersprüchen, die in der Begründung der bisherigen diskriminierenden Tradition liegen, nicht ausweichen. Es ist unsere Aufgabe, diese Auseinandersetzungen immer wieder zu suchen und mit Verweis auf unser protestantisches Bekenntnis selbstbewusst einzufordern.

In solchen Diskussionen wird unweigerlich auch das Schriftverständnis zum impliziten, teilweise aber auch recht expliziten Gegenstand der Debatte. Auch hierbei können wir uns auf den reformatorischen Zugang zur Bibel stützen. Oft wird seitens konservativer oder evangelikaler Verfechter_innen der Diskriminierung homosexuell Liebender zur Legitimation auf bestimmte Bibelstellen verwiesen und die absolute Autorität der Heiligen Schrift, insbesondere des Evangeliums, betont. Diese Autorität stellt auch die Theologie Luthers heraus. Allerdings hat Luther erkannt, dass das Evangelium seine Autorität nicht durch die Schrift erlangt, sondern umgekehrt die Bibel deshalb Autorität besitzt, weil sie das Evangelium von Jesus Christus bezeugt. Das bedeutet: Ohne die Tatsache des Evangeliums, der frohen Botschaft, ohne dass Gott Mensch geworden ist und all unser Sünde vergeben und geheilt hat, gäbe es gar kein Neues Testament und keine Heilige Schrift. Wir glauben nicht an ein Buch, sondern an Gottes Sohn, der in diesem Buch bezeugt wird. Und "von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge" (Röm. 11, 36), auch die Heilige Schrift. Zuerst kommt Christus, das lebendige Wort (Joh. 1) und dann der geschriebene Buchstabe der Bibel. Ein wortwörtliches Verständnis der Schrift, das nicht immer wieder jedes einzelne Wort an Christus prüft, ist im wahrsten Sinne des Wortes unchristlich. Deshalb hält uns Luthers Theologie dazu an, die Bibel nach dem Paradigma zu lesen: Was Christum treibet. Also, was bedeutet diese oder jene Stelle im Lichte Christi? Daran orientiert dürfen wir auch einzelne Schriftstellen, wie etwa jene, die Sklaverei befürworten, oder die für das Haareschneiden, Essen von Schalentieren und homosexuellen Geschlechtsverkehr die Todesstrafen fordern sowie die in denen Ehen zwischen verschiedenen Ethnien verboten werden, kritisch lesen, ja sie sogar ablehnen. Das Evangelium steht immer höher als der einzelne Schriftbuchstabe. Oder im reformatorischen Sinn anders formuliert: Wir lesen die Schrift von der Mitte aus und die Mitte ist Jesus Christus und Christus heißt die unveräußerliche Botschaft, dass der Mensch aus Gnade allein gerechtfertigt ist.

Die Fragen, die Luther bezüglich des Verständnisses der Heiligen Schrift aufwirft gehen allerdings  noch viel weiter und tiefer. Reformatorische Theologie fragt ganz grundsätzlich danach, ob wir die Bibel immer nur als ein Buch benutzen sollten, dass uns dazu dient, bestimmte ethische und theologische Positionen zu formulieren, zu begründen oder zu widerlegen. Die Reformatoren betonen, dass die Heilige Schrift auch dazu genutzt werden kann, aber sie eigentlich einem sehr viel wichtigeren Zweck dient. Es gibt zwei Extrempositionen des Schriftverständnisses. Die erste ist eine biblizistische. In dieser neuzeitlichen Sichtweise spielen persönliche Glaubenserfahrungen keine Rolle. Das Schriftwort steht über allem und ist in seinem Wortlaut so hinzunehmen, unabhängig vom individuellen Erleben. Die zweite Position lässt sich als ein Schwärmer_innentum bezeichnen. Hier wird ausschließlich das Erleben, das uns der Heilige Geistes vermittelt, betont, was die Relevanz der Bibel letzten Endes infrage stellt. Luther lässt sich zwischen diesen Positionen verorten. Seine Theologie bezeugt, dass die Schrift dazu da ist, uns Gott als einen "Backofen voller Liebe" nahe zu bringen. Die Heilige Schrift ermöglicht es uns, Dinge anders wahrzunehmen, als wir sie sonst erfahren würden: Im Angesicht eines Schöpfers, der uns liebt. Ich kenne zahlreiche Geschichten von homosexuell begabten Christ_innen, die eine tiefe Glaubenserfahrung beim Hören biblischer Worte im Rahmen der Feier des Heiligen Abendmahles gemacht haben. Diese Geschwister, die auf Grund von diskriminierenden Erfahrungen ein so tiefes sitzendes Gefühl, des nicht Dazugehörens, des nicht Geliebtseins, des nicht Würdigseins gegenüber ihrem Schöpfer und seiner Kirche verspürt haben, wurden plötzlich von den Einsetzungsworten "dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird" (Lk. 22,19) oder der Ableitung davon "Christi Leib für Dich gegeben", auf göttliche Weise ergriffen. Unter Tränen ist ihnen in diesem Moment klar geworden: Ich bin gemeint, geliebt, so wie ich bin. Ich bin sein Kind. Ein Bekannter berichtete einmal, er habe erst in diesem Moment begriffen, was wahre Barmherzigkeit ist. Er erkannte, dass er Jahrzehnte lange Umwege gemacht hat, nur um schließlich am sogenannten "anderen Ufer" anzukommen und dann zu begreifen, dass Christus dort schon lange auf ihn gewartet hat. Luther macht in seiner Theologie stark, dass es im Glauben um solche gelebte und erlebte Erfahrungen geht, der Bibel kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Sie ist das Medium, durch das Gott mit uns spricht. Nicht nur in gottesdienstlichen Zusammenhängen, sondern auch bei der Lektüre der Heiligen Schrift, kann uns dies widerfahren. Etwa wenn wir von den Geschichten lesen, in denen sich Jesus konkreten Menschen wie der blutflüssigen Frau, dem Aussätzigen oder dem römischen Hauptmann zugewandt hat. Plötzlich spüren wir, das sind nicht nur Worte einer Begebenheit, nein, es ist eine direkte Ansprache unseres Herrn - er spricht mit mir. Jesus lässt mich den Saum seines Gewandes berühren, er will den Mann, den ich liebe wieder gesund machen, er fragt mich: Was willst du, dass ich für dich tun soll? (Lk. 18, 41).

Ich wünsche Ihnen, dass Sie heute an diesem Reformationstag und darüber hinaus, den lebendigen Gott erleben dürfen. Den Schöpfer, der uns so nahe ist. Möge die Theologie der Reformation noch lange Zeit genau dazu ihren segensvollen Beitrag leisten, bis wir eines Tages unserem Herrn selbst gegenüberstehen.

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