Orthodox und inklusiv

Orthodox und inklusiv
Foto: Kerstin Söderblom
Sexuelle Minderheiten und verschiedene Genderidentitäten sind bisher in den christlich Orthodoxen Kirchen offiziell kaum vorgekommen. Und wenn doch, dann sind die Aussagen zumeist abwertend, verletzend oder ausgrenzend. Ein neues Buch zeigt, dass es dennoch Denk- und Freiräume gibt.

Das Buch „For I Am Wonderfully Made“ (denn ich bin wunderbar gemacht) wurde von drei Mitgliedern vom European Forum of Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Groups herausgegeben: Michael Brinkschröder aus Deutschland, Misha Cherniak aus Russland/Polen und Olga Gerassimenko aus Estland. Es ist ein Sammelband, der sich aus theologischen, geisteswissenschaftlichen und persönlichen Perspektiven mit dem Thema Orthodoxe Kirche und Inklusion auseinandersetzt.

Das Buch ist ein Ergebnis der intensiven theologischen und seelsorgerlichen Arbeit des Europäischen Forums mit LSBT Christinnen und Christen aus Mittel- und Osteuropa. Die meisten mittel- und osteuropäischen Länder sind im Europäischen Forum vertreten. Die Mitglieder aus diesen Ländern berichten immer wieder von Diskriminierungserfahrungen und von homo- und transfeindlichen Attacken in Russland, Tschetschenien, Rumänien, Serbien, Moldau, der Ukraine und in anderen Ländern. Daher haben Mitglieder des Europäischen Forums schon vor über zehn Jahren diese Erfahrungen zum Anlass genommen, theologische Summerschools und Trainingsprojekte zu Menschenrechtsfragen und zur Antidiskriminierungsarbeit speziell für Mitglieder und Gläubige Orthodoxer Kirchen anzubieten.

Die meisten osteuropäischen LSBT müssen sowohl innerhalb und als auch außerhalb der Orthodoxen Kirchen ihre Lebensform oder Genderidentität versteckt leben. In manchen Ländern wie in Russland werden sie kriminalisiert und verfolgt. In Tschetschenien wurden im Frühjahr 2017 Lager für (angeblich) schwule Männer eingerichtet. Mehr als hundert Männer sollen nach verschiedenen Berichten gefoltert und ohne Verfahren eingesperrt worden sein. Matthias Albrecht berichtete dazu auch auf evangelisch.de. Bis heute ist nicht geklärt, was aus den Männern geworden ist.

Diese und andere Phänomene sind auch der Grund dafür, dass beim Europäischen Forum auch spezielle osteuropäische Forumskonferenzen stattfinden. Dort werden die besonderen Bedürfnisse und Themen osteuropäischer LSBT Christinnen und Christen ausgetauscht, reflektiert und zukünftige Strategien für kirchliche Aufklärungs- und Gleichstellungsarbeit entwickelt. Diese Arbeit hat kleine zumeist unabhängige christliche LSBT Gruppen in verschiedenen mittel- und osteuropäischen Ländern gestärkt, inspiriert und ermutigt, eigene Gottesdienste zu feiern und Spiritualität und Glauben auch jenseits von offiziellen Amtskirchen zu teilen und zu feiern.

Dieses vielfältige Engagement ist die Grundlage für das vorliegende Buch. Der Sammelband besteht zur einen Hälfte aus Vorträgen eines Seminars, das im August 2015 in Finnland stattgefunden hat. Das Seminar hat sich mit Orthodox theologischen Reflexionen zum Thema Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle (LSBT) beschäftigt. Die andere Hälfte der Artikel des Buchs zeigt das Denken und Schreiben von orthodoxen LSBT Theologinnen und Theologen, Forschenden und Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb der letzten zwanzig Jahre. Die Sammlung bietet eine ermutigende und stärkende Botschaft an LSBT in OrthodoxenTraditionen. Der Titel fasst diese Botschaft in einem Zitat aus Psalm 139,14 zusammen:

„Ich lobe dich, denn ich bin wunderbar gemacht.“

Der Sammelband ist in fünf Bereiche aufgeteilt:

  1. Trinität, Person und Gender. Anthropologische Grundlagen
  2. Neue Perspektiven zur Orthodoxen Tradition: Quellen für eine LSBT befürwortende Theologie
  3. Orthodoxe Kirche: Vom Ausschluss zum Dialog
  4. Neue pastorale Annäherungen: Von der Beichte zum Zeugnis
  5. Das Heilige und Große Konzil der Orthodoxen Kirche: Hoffnung für die Zukunft.

Das Buch stellt vor allem für theologisch Interessierte und Gebildete einen reichen Fundus an Informationen, Inspiration und Strategien für theologische Debatten dar. Biblisch hermeneutische Fragen werden ebenso diskutiert wie Fragen nach christlich Orthodoxen Menschen-, Kirchen- und Gottesbildern, Ehe- und Familienvorstellungen und Herausforderungen von Beichte, Gottesdienst und Abendmahl für LSBT im Orthodoxen Kontext.

Im vierten Teil  des Buches werden auch persönliche Erfahrungen in Orthodoxen Kirchen dokumentiert. Es wird von spiritueller Gewalt gegenüber LSBT Christinnen und Christen berichtet. Sie wurden im Rahmen von Beicht- oder Seelsorgegesprächen beleidigt, verbal verletzt oder sogar dämonisiert. Aber es werden auch positive Erfahrungen aufgezeigt. Interessant sind auch zwei dokumentierte Runde-Tisch-Diskussionen von LSBT Aktivistinnen und Aktivisten und Geistlichen zum Thema Seelsorge und Beichte einerseits und zum Thema Familie und Ehe andererseits.

Insgesamt ist das Buch eine beeindruckende Sammlung von theologischen Texten, seelsorgerlichen Perspektiven und persönlichen Geschichten.  Es bietet eine Fülle an Material für all diejenigen, die sich für Orthodoxe Theologie und LSBT Themen interessieren.

Absolut lesenwert! Und achja, es ist auf Englisch. Hoffentlich wird es bald ins Deutsche übersetzt!

Zum Weiterlesen:

Brinkschröder, Michael/Cherniak, Misha/Gerassimenko, Olga (Hg.), „For I Am Wonderfully Made“. Texts on Eastern Orthodoxy and LGBT Inclusion, Esuberanza Publisher - Niederlande 2017

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