Die Tugend, voneinander zu lernen

Die Tugend, voneinander zu lernen
Buchcover Elizabeth Edman "Queer Virtue"
Buchcover "Queer Virtue"; Beacon Press, Boston
Können “queere Tugenden” den christlichen Kirchen neue Impulse geben? Ja, meint Elizabeth Edman und wagt es in ihrem neuen Buch, statt althergebrachter Gegensätze Gemeinsamkeiten und Chancen zu sehen.

Es ist ein kühner und womöglich skandalöser Ansatz, den Elizabeth M. Edman, in New York lebende Pastorin der Episkopalkirche, in ihrem Buch "Queer Virtue" verfolgt. Authentisches Christentum, so formuliert sie gleich zu Beginn, "ist queer und muss queer sein". Damit hat sie weder im Sinn, dass alle Christen schwul bzw. lesbisch werden müssen, noch dass alle jene, die sich als homo-, bisexuell, transidentisch bezeichnen, christlich sind oder es werden müssen. Vielmehr versteht sie unter "queer" auf eine sehr allgemeine Weise die Fähigkeit, bestehende Grenzen zu überwinden, zu hinterfragen, zu verändern. Und verweist auf das zentrale Moment des Christentums, als weltweite Glaubensgemeinschaft Trennendes wie nationale Zugehörigkeiten, Hautfarbe etc. zu überwinden. Christsein sieht sie als (spirituellen) Weg, der in der Auseinandersetzung mit Gott und mit anderen Menschen beschritten werden muss. In Kapiteln zu Themen wie Identität, Gemeinschaft, Risiko, Familie, Liebe, Gastfreundschaft, Skandalisierung, Stolz versucht sie, deren Bedeutung für Homosexuelle herauszuarbeiten und zugleich als wesentliche Elemente christlichen Lebens kenntlich zu machen.

Edmans Buch ist keine theologische Abhandlung, ist auch keine Biografie, kein sozialpolitischer Essay - und doch alles zugleich. Interpretationen von Bibelstellen stehen neben persönlichen Erlebnissen und Begegnungen, Erfolge der Menschenrechtsbewegung werden kontrastiert mit Verweisen auf andauernde Gewalt und Diskriminierung in vielen Teilen der Welt. "Queer Virtues" ist vielschichtig, anregend und von christlicher Zuversicht in Liebe und Würde geprägt.

Das Buch erschien vor dem Massaker im Club "Pulse" in Orlando, bei dem ein Mörder 49 Menschen erschoss. Umso eindringlicher liest sich nun eine Passage, in der Elizabeth Edman an das Attentat auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Bibelstunde in der Emanuel African Methodist Episcopal Church in Charleston im Juni 2015 erinnert. 9 Afroamerikanerinnen, Afroamerikaner wurden von einem Eindringling getötet. Edman zitiert die Reaktion der Schwester einer der Ermordeten: "Im Herzen Emanuels hat der Hass keinen Platz. Dies ist nicht der Gott, dem wir dienen."

Das Kapitel, in dem davon erzählt wird, ist mit "Risk" (Risiko / Wagnis) überschrieben - es hätte auch mit "Hoffnung" betitelt werden können. Der zu sein, der man ist, sich öffentlich zu zeigen und zu sagen: "Das bin ich!", geht immer einher mit dem Risiko, sich dadurch Diskriminierung und Gewalt auszusetzen. Es doch zu tun, wie etwa massenhaft auf den CSD-Demonstrationen, aber auch individuell im alltäglichen Leben, sei geprägt von einer Zuversicht und der Hoffnung, dass die Dinge gut werden. Ein Hoffen, das nach Edman auch essenziell für das Christentum ist. Grundlegend ist für sie dabei, dass weder Christentum noch queeres Leben sich im stillen Kämmerlein vollziehen, sondern stets auf die Gemeinschaft, die Community angewiesen sind. Nur in der Auseinandersetzung mit anderen - in der Gabe, zu berühren und berührt zu werden - kann sich ein gesundes Selbstbewusstsein herausbilden. Das Ringen Jakobs mit dem Engel ist für sie ein Gleichnis, dass der Weg nach Hause, zur Versöhnung nicht ohne Auseinandersetzung zu haben ist.

Im Kapitel "Pride" verweist sie auf die Anrufung Abrahams durch Gott, die Abraham mit einem (recht selbstbewussten) "Henini - Hier bin ich!" beantwortet. Edman spricht vom "healthy pride", dem "gesunden Stolz" und macht - durchaus in Richtung der LGBT-Gemeinschaft - klar, dass sich dieses Selbstbewusstsein zwar gut anfühlen kann, aber längst keine "Wohlfühl-Zone" ist, in der man sich behaglich einrichten kann. "Pride", so schreibt sie, sei nicht nur ein Gefühl. Eher ist Selbstbewusstsein für sie ein dauerhafter Prozess, der immer wieder Mut erfordert, sich selbst zu hinterfragen. Ungewohnt dürfte es für manche Leser sein, dass Elizabeth Edman progressiven Christen rät, sich in Sachen gesundem Selbstbewusstsein und Identität doch auch von "queeren" Erfahrungen, der Geschichte / den Geschichten von Schwulen, Lesben und Transgender inspirieren zu lassen.

Mag einem Edmans Ankündigung auf eine "Revitalisierung" des Christentums, wie es im Untertitel des Buches heißt, auch recht vollmundig erscheinen, so ist es doch eine belebende Qualität ihrer Gedanken, dass sie Erfahrungen schwulen, lebischen, "queeren" Lebens - das, "was LGBTQ vom Leben und der Liebe wissen" - in christlichen Glauben einzubringen versucht. Statt sich an althergebrachten Gegensätzen festzubeißen, will sie Queeres und Christliches füreinander fruchtbar machen. Schon allein deshalb ist dem englischsprachigen Buch eine baldige Übersetzung ins Deutsche zu wünschen. Im Verständnis "queerer Tugenden" lässt sich, so ihre Zuversicht, ein neues, anderes, sich veränderndes, tiefer gehendes Selbstverständnis christlicher Traditionen entwickeln. Sie wird wissen, worauf sie sich mit diesem Ansatz eingelassen hat.

Buchinfo: Rev. Elizabeth M. Edman: Queer Virtue. What LGBTQ People Know About Life and Love and How It Can Revitalize Christianity, Beacon Press, Boston. Link: Englischsprache Internetseite zum Buch

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