Die Frage der Woche, Folge 61: Ist das die ganze Wahrheit?

Die Frage der Woche, Folge 61: Ist das die ganze Wahrheit?
Wenn Nutzer Journalisten nicht immer Absichten unterstellen würden, die es nicht gibt, könnte man besser miteinander reden.

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,

Als Journalist wird man immer wieder mit Erwartungen konfrontiert, mit denen man nie gerechnet hätte. Das war auch unter einem Text der Fall, mit dem wir das Scheitern des "Buen Vivir" in Ecuador beschrieben haben. Dazu schrieb Emilia Nestroy:

"Wie der Journalismus scheitert, weil er komplexe Realitäten nicht versteht, ergibt sich eher aus diesem Artikel. Sind es bei uns -oder in den USA- denn signifikant mehr Familien, die 80% der nationalen Wirtschaft kontrollieren?
Einer der wichtigsten Aspekte von "Buen vivir" ist auch: geht es mehr Menschen besser? Die Regierung in Nordrheinwestfalen ist in dieser Hinsicht im gleichen Zeitraum kläglicher gescheitert als Ecuador -oder Bolivien. Ganz zu schweigen vom Umwelt-Aspekt -auch hier haben Latein- und Südamerikanischen Staaten unterm Strich mehr Erfolge vorzuweisen.
Und ja- dass möglichst viele, möglichst gut leben, steht oft in Spannung zum Umweltschutz. Mit der Hochnäsigkeit westlicher Beamtensalär-Grüner über ecuadorianische Bauern oder bolivische Bergarbeiter zu moralisieren, zeugt nur davon, warum wir Westeuropäer mit vielen globalen Movements nicht mehr mithalten können. Schade eigentlich"

Die Idee, das ecuadorianische  „Buen Vivir“ mit dem nordrhein-westfälischen Lebensstandard zu vergleichen, ist uns in der Redaktion nicht gekommen. Das ist ein Vergleich von Äpfel und Zitronen, der über das Informationsziel weit hinausging. Unser ehemaliger Volontär arbeitet jetzt als freier Journalist in Ecuador und hat uns als Thema angeboten, diese Gesellschaftsform und die Schwierigkeiten in der Umsetzung zu beschreiben. Genau das hat er getan und dafür in Büchern zum Thema und Gesprächen mit Menschen, die sich mit dem „Buen Vivir“ auskennen, recherchiert. Unter anderem war auch Alberto Acosta darunter, einer der Mitverfasser der Idee des "Buen Vivir", der heute zu den großen Kritikern der Umsetzung gehört.

Aber weil wir die Situation in Ecuador nicht mit der in Nordrhein-Westfalen verglichen haben, hätten wir „das komplexe Thema nicht verstanden“ und „über ecuadorianische Bauern moralisiert“, behauptet Emilia Nestroy. Beides sind Vorwürfe, die der Inhalt, wie er auf der Seite steht, nicht hergibt. Unser Autor hat die Komplexität des Themas sehr wohl verstanden und sie in einem Text zusammengefasst, der sowohl eine lesbare Länge hatte als auch fundierte Aussagen zum "Buen Vivir“.

"Moralisiert" haben wir auch nicht. Der Text enthält kein Werturteil, ob das alles so gut ist oder nicht; er beschreibt aber, dass das die Ideen des Buen Vivir nicht umgesetzt werden können, wenn die Wirtschaft mehrheitlich in der Hand weniger Familien liegt. Das Prinzip funktioniert einfach anders. Das ist also ein Zeichen, dass die Umsetzung gescheitert ist. Das ist eine Tatsache.

Nicht gescheitert ist dabei aber der Journalismus. Der Vorwurf zeigt aber symptomatisch das mangelnde Vertrauen, das manche Leser*innen der schreibenden und recherschierenden Zunft entgegenbringen. Wenn ein Inhalt nicht der Leser-Einschätzung entspricht, obwohl er nicht einmal eine Bewertung der Lage durch den Journalisten enthält, dann ist der Journalismus damit gleich "gescheitert". Wenn alle Nutzer so an Inhalte herangingen, könnte man als Journalist in den Augen dieser Nutzer nie mehr erfolgreich arbeiten.

Die Fortsetzung dieser Gedankengänge führt schnell zu weiteren Vorwürfen. Sobald einzelne Menschen ihre Sichtweise oder ihr tiefes Detailwissen in solchen Inhalten nicht wiederfinden, werfen sie den Journalisten inzwischen gerne mal „Unterkomplexität“, „Unwissen“ oder „bewusste Verzerrung“ vor, nennen sie „systemgesteuert“ oder eben „Lügenpresse“. Dahinter steckt in den allermeisten Fällen eine eigene Idee von der Aufgabe, die Journalisten mit einem spezifischen Inhalt erfüllen sollen und/oder wollen. Diese Idee ist aber sehr oft nicht mit der Idee der Journalisten identisch.

Gerade wenn ein Leser eine eigene, sehr klare Meinung zu einem Thema hat, wird angenommen, dass auch Journalisten Inhalte immer bewusst durch ihre eigene Meinung filtern, um diese Meinung in der Öffentlichkeit zu platzieren. Das ist aber nicht immer so. Das ist bei allen Kolumnen und Kommentaren so, aber nicht bei Reportagen und Korrespondentenberichten. Das ist bei manchen Features so, aber nicht bei Nachrichten und Berichten.

Das Problem ist, dass Journalisten sehr genau wissen, wann sie das tun und wann nicht, viele Leser das aber nicht erkennen. Das ist nämlich auch nicht ganz einfach. So entsteht Feedback, bei dem der Nutzer Vorwürfe macht, die der Journalist nicht nachvollziehen kann. Zum Beispiel gescheitert zu sein, obwohl er einen guten Inhalt abgeliefert hat. Denn Nutzer interpretieren immer das Ergebnis von Berichterstattung, weil sie die Intention nicht kennen. Wenn sie sich selbst eine Intention zusammenfantasieren, gerät dabei das Vertrauen in Journalisten unter die Räder.

Denn bei weitem nicht jeder Journalist und jedes Medium hält sich an die Standards der eigenen Branche. Das klassische Beispiel sind Blätter wie die „Bild“, im Internet gibt es unzählige Beispiele mehr. Wenn CNN und Infowars, die Zeit und rechts-identitäre Blogs, Mobilbranche und Curved, evangelisch.de und kath.net alle gleichberechtigt nebeneinander stehen, fällt es vielen Nutzern schwer, zu unterscheiden, wer davon sich an welche Standards des Journalismus hält.

Das ist verständlich, aber daraus aggressives Feedback oder gar Beleidigungen zu machen, ist es nicht. Was uns viel mehr helfen würde, wären Kommentare wie „ich hätte mir mehr Informationen gewünscht“ oder „könnt ihr den Anstieg des Lebensstandards mal mit hierzulande vergleichen“ oder weitere konkrete Fragen. Wir können die oft auch nicht nachträglich beantworten, aber wir können es vielleicht beim nächsten Mal besser machen. Kommentare wie „ihr habt das Thema nicht verstanden“, ohne dass der Kommentarschreiber die Intention hinter der Beauftragung eines Inhalts kennt, sorgen dagegen eher für Abwehrreaktionen.

Der andere Vorwurf aus der vergangenen Woche war noch krasser. Zu meinem Blogeintrag von vergangener Woche über die beklagenswerte Lage in der Welt schrieb "Gast":

"Ja, eine solche Nachrichtenlage kann einen schon in ohnmächtige Liebesrhetoriken flüchten lassen. Doch ist zu fragen, ob nicht mehr passiert ist als das, was Nachrichtenlage ist. Passiert nur das, was in den Nachrichten steht? Ist das die ganze Wahrheit? Denn wenn nicht, dann hat eine bestimmte Nachrichtenlage offensichtlich die Funktion, Menschen in ohnmächtige Liebsrhetoriken flüchten zu lassen."

"Gast" variiert hier eine beliebte Verschwörungstheorie, nämlich die von zentral gesteuerten oder mindestens hirngewaschenen Medienmachern, die die Öffentlichkeit bis zur willenlosen Ohnmacht betäuben wollen. Das speist sich davon, dass ein einzelnes Medium - insbesondere eines, das eine so spezifische Ausrichtung und eine so kleine Redaktion hat wie wir - nie alles berichten kann und deswegen eine klare Gewichtung vornehmen muss. Menschen, die so argumentieren, sind aber oft auf noch kleineren Seiten unterwegs, wo sie all das finden, was anderswo nicht steht - egal, wie wahr es ist oder nicht. Da glauben sie dann, den Rest der Wahrheit zu finden, auch wenn diese Seiten erst recht nicht über alles berichten.

Auch hier unterstellt der Nutzer eine Intention, die sich mit der Intention der Journalisten, so wie ich sie persönlich kennengelernt habe, nicht einmal ansatzweise deckt. Natürlich passiert immer mehr, als im Internet und in den Zeitungen steht. Was davon wichtig ist, bleibt die Entscheidung von Algorithmen und Menschen. Bisher noch ist deren Hauptkriterium: Was interessiert die Menschen? Was könnte für sie wichtig sein, und wo klicken sie drauf? Diese beiden Dinge sind leider nicht immer identisch. Deswegen muss sich jeder Nutzer seinen oder ihren eigenen Weg durch den Informationsdschungel bahnen. Ich würde mir wünschen, dass sie dabei weniger unterstellen und mehr nachfragen. Also weniger "Ihr habt...!", sondern mehr "Warum habt ihr...?"

Ich wünsche euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!


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