Ihre Fragen, unsere Antworten - Folge 6: 150 vs 400?

Ihre Fragen, unsere Antworten - Folge 6: 150 vs 400?
Sind 150 Opfer eines Flugzeugabsturzes wichtiger als 400 ertrunkene Flüchtlinge?

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,

Anfang der Woche starben geschätzt 400 Flüchtlinge beim Untergang eines Flüchtlingsbootes im Mittelmeer. Heute haben sich in Köln 1.500 Menschen versammelt, um den 150 Opfern des Flugzeugabsturzes vom 24. März zu gedenken. Stellvertretend für viele Menschen fragte unser Blogger Heiko Kuschel auf Twitter:

Warum gibt es um die 400 ertrunkenen Flüchtlinge nicht genau so viel Aufregung wie um die 150 Toten des Flugzeugabsturzes? Ich schäme mich.

— Citykirche SW (@citykirche_sw) 15. April 2015

Berechtigte Frage. Als ich heute morgen zur Arbeit fuhr, waren an der Frankfurter Messe alle Flaggen auf halbmast gesetzt. Weil ich beim Frühstück noch von dem tragischen Bootsunglück gelesen hatte, wunderte ich mich: Hatte die Messeleitung auf die Mittelmeer-Tragödie reagiert? Dann fiel es mir ein: Heute war auch der Staatstrauerakt im Kölner Dom für die Opfer des Germanwings-Absturzes. Für die Ertrunkenen im Mittelmeer würde die Messe die Flaggen aus aller Herren Länder nicht auf halbmast senken.

Für Flüchtlinge würden wir das nicht machen, aber für gestorbene Deutsche schon? Ein nationalistischer Gedanke? Ein zynischer Gedanke? Ein selbstverständlicher Gedanke? Will ich so etwas überhaupt denken?

Eine Erklärung findet sich in der Journalistik-Wissenschaft, und zwar bei den so genannten Nachrichtenfaktoren (zur Übersicht: Wikipedia zur Nachrichtenwert-Theorie). Einer dieser Faktoren, die Journalisten bei der Auswahl von Nachrichten berücksichtigen, ist Nähe - räumliche, politische, kulturelle Nähe. Das trifft auch in diesem Fall zu, und zwar nicht nur für Journalisten. Die 150 Menschen an Bord des abgestürzten Flugzeugs sind den meisten Menschen hierzulande näher als die Flüchtlinge auf den Booten im Mittelmeer, denn die eine Katastrophe könnte jeden von uns treffen, die andere eher nicht.

Für mich gilt das auch: Dass ich an Bord eines Ferienfluges von Barcelona nach Düsseldorf sitze, ist erheblich wahrscheinlicher als dass ich mich an Bord eines Flüchtlingsbootes mit hunderten anderen Verzweifelten zusammendrängen und auf Rettung warten muss.

Der Absturz ist zudem noch unwahrscheinlich, ein tragischer Einzelfall, eine Ausnahme inmitten einer riesigen Zahl an unfallfreien Passagierflügen. Die Tragödie im Mittelmeer dagegen wiederholt sich fast täglich. Deswegen stumpfen wir gegenüber diesen Nachrichten, die ohnehin schon so weit weg scheinen, auch noch ab. "Mir könnte das nicht passieren".

Ich weiß aber nicht, ob es mir nicht auch irgendwann passieren könnte, dass ich fliehen muss, beladen mit den Hoffnungen der Heimgebliebenen und der Ungewissheit, ob ich überhaupt irgendwo ankomme. Ich hoffe sehr, dass es nie so weit kommt. Eigentlich will ich mir das auch nicht vorstellen.

Es ist so einfach, diese Gedanken wegzuschieben. Es ist auch nötig, denn kein Mensch kann alles Leid dieser Welt kennen und beweinen. Irgendwo zwischen Aufregung und Wegschieben muss ich mich einsortieren. Jeden Tag wieder neu. Jeden Tag wieder schwierig. Eine bessere Antwort habe ich nicht.


Wenn Sie noch weitere, andere oder neue Fragen zu evangelisch.de oder unseren Themen haben, sind die Redaktion und ich auf vielen verschiedenen Kanälen erreichbar:
- evangelisch.de auf Twitter unter @evangelisch_de
evangelisch.de auf Facebook
E-Mail für alle inhaltlichen Fragen und Anregungen
E-Mails für alle technischen Probleme, die Ihnen auffallen

Alle Fragen zu Kirche und Glauben beantwortet Ihnen unser Pastor Frank Muchlinsky auf fragen.evangelisch.de.

Ich werde immer am Freitagabend an dieser Stelle ihre Fragen beantworten, so gut ich kann, und wünsche euch und Ihnen einen gesegneten Start ins Wochenende!

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?