epd: Herr Steppuhn, wer früher zur Tafel kam, hatte oft keine Arbeit. Inzwischen kommen auch Menschen in Arbeit mit den stark steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen nicht mehr klar. Wie hat sich die Zusammensetzung Ihrer Kunden in den vergangenen fünf Jahren verändert?
Steppuhn: Die Tafeln befinden sich seit Jahren in einem anhaltenden Krisenmodus. Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine kommen im bundesweiten Durchschnitt 50 Prozent mehr Kundinnen und Kunden zu den über 970 Tafeln. Aber auch bereits davor war die Situation durch Pandemie und Inflation sehr herausfordernd. Rund ein Drittel der Tafeln arbeitet mit temporären Aufnahmestopps oder Wartelisten. Zu den Armutsbetroffenen vor Ort zählen unter anderem Seniorinnen und Senioren, Familien mit Kindern, Geflüchtete und Menschen, die Bürgergeld erhalten oder einen Minijob haben.
Vor allem Rentner, die ein Leben lang gearbeitet haben, schämen sich teils, zur Tafel zu gehen. Wer traut sich nicht, obwohl er bedürftig ist?
Steppuhn: Es ist richtig, dass sicherlich nicht jede Person kommt, die eigentlich Unterstützung benötigt. Armut wird oftmals begleitet durch Scham. Die einen möchten vor Ort nicht gesehen oder erkannt werden, die anderen können es nicht mit sich vereinbaren, dass nach einem ganzen Arbeitsleben die Rente nicht ausreicht, um über die Runden zu kommen. Dabei liegt das nicht an den Menschen, sondern an den nicht armutsfesten Renten. Hier muss die Politik wirksame Anpassungen vornehmen. Wir benötigen aber auch gesellschaftlich eine Veränderung: Menschen sind grundsätzlich alle gleich, und niemand ist selbst verschuldet arm - hier braucht es ein anderes Menschenbild ohne Stigmatisierung.
Wie kommen die Tafeln mit der großen Nachfrage zurecht, gibt es noch genügend Lebensmittelspenden?
Steppuhn: Wir merken, dass die Lebensmittelspenden bei den Supermärkten stagnieren oder weniger werden, weil sie besser kalkulieren und am Ende des Tages nicht mehr so viel übrig haben. Diese Entwicklung begrüßen wir grundsätzlich, da Tafeln gegen Lebensmittelverschwendung antreten. Wir gehen daher verstärkt andere Wege, um Lebensmittelspenden zu akquirieren: Wir bauen unsere Logistik aus, investieren in Lager und nehmen vermehrt größere Mengen von Herstellern ab.