Trauriger Mohn

Trauriger Mohn

In Großbritannien blühen zur Zeit die Mohnblumen. Vor einigen Wochen tauchten sie zunächst vereinzelt auf, dann wurden es immer mehr. Ihren Höhepunkt werden sie am Sonntag erreichen. Das kann ich so genau vorhersagen, weil der Popaver rhoeas, von denen hier die Rede ist, nicht etwa auf Feldern oder an Straßenrändern wächst, sondern auf Revers, Pullovern, Mantelkrägen und Blusen. Verkäuferinnen tragen sie ebenso wie der Postbote, Fußballspieler und die Sprecherinnen und Sprecher der BBC-Nachrichten. Denn am 11.11. ist Poppy Day in England. Der markiert nicht etwa den Beginn des Karnevals, sondern das Ende des 1. Weltkrieges. Gedacht wird dabei den Toten der Kriege. Aller Kriege. Weshalb er auch Remembrance Day genannt wird, das britische Äquivalent zum Volkstrauertag.

Im Auftrag der British Legion, Betreiberin der Kampagne "Poppy Appeal", werden hierzu in Großbritannien jedes Jahr circa 50 Millionen Papier-Mohnblumen in Behindertenwerkstätten und in Heimarbeit von Betroffenen und Militärangehörigen hergestellt und auf den Straßen und an der Supermarktkasse gegen eine Spende ausgegeben. Angeboten werden sie als Anstecker oder montiert auf hölzerne Kreuze, Davidsterne, muslimische Halbmonde oder, seit Neuestem, auf Khandas, dem religiösen Symbol der Sikhs. Das auf diese Weise eingenommene Geld soll verwundeten Soldaten und ihren Familien zugute kommen.

Als ich vor Jahren das erste Mal buchstäblich jeden Zweiten in England mit einer angehefteten Mohnblume herumlaufen sah, wunderte ich mich: Warum ist ausgerechnet der so fröhlich daherkommende Mohn als Symbol für das Gedenken an Kriegstote und -verwundete gewählt worden? Die Antwort liegt ebenfalls im 1. Weltkrieg begründet: Im Mai 1915 starben in der Schlacht von Ypres im belgischen Flandern innerhalb weniger Tage mehrere tausend Sodaten, die meisten von ihnen durch den Einsatz von Giftgas durch die deutschen Truppen. Danach wuchs nichts mehr auf den ehemaligen Schlachtfeldern, lediglich der Klatschmohn fasste Fuß in der aufgewühlten Erde der Gräber. Sein weithin leuchtendes Rot wurde (und wird) als Symbol für das vergossene Blut gesehen. Den kanadischen Major John McCrae, der ebenfalls in Flandern war, inspirierte der Mohn zu einem Gedicht, das folgendermaßen beginnt:

In Flanders Fields the poppies blow
Between the crosses, row on row…

Und deshalb blüht in England im November der Mohn.

P.S.: Gesagt werden muss auch: England ist kein Land, das allzu sehr von der Sorge um Heldenverehrung und Kriegsverherrlichung umgetrieben wird. Der Einsatz in Afghanistan wird kaum in Frage gestellt, Soldaten oft und gerne als heroes bezeichnet, die Veteranen des letzten Weltkriegs regelmäßig geehrt. Und so blüht im November fast ausschließlich roter Mohn auf britischen Mantelkrägen und Blusen. Weißen Mohn, die Symbolblume der pazifistischen Peace Pledge Union, die sich gegen jede Art von Kriegshandlung ausspricht, sieht man nur selten auf den Straßen der Insel. Schade, er wäre eine schöne Ergänzung.

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