Der "True Crime"-Titel des Auftakts stand auch für die Machart: In den über weite Strecken fast dokumentarisch wirkenden Filmen ging es nicht um Befindlichkeiten, sondern um die Arbeit der Polizei. Nach dem Tod von Regisseur Urs Egger übernahm dessen Schweizer Landsmann Markus Imboden die Umsetzung der Drehbücher von Katja Röder und Fred Breinersdorfer; am Stil änderte sich nichts. Erst Niki Stein wählte zuletzt mit "Briefe aus dem Jenseits" (2023) einen deutlich anderen Ansatz. Der Schwerpunkt lag zwar nach wie vor bei den Ermittlungsmethoden, aber die Inszenierung wurde "filmischer". Die deutlichste Änderung betraf jedoch die Hauptfigur: Thiel, von Ferch bis dahin distanziert und fast verschlossen verkörpert, wurde nahbar.
Für den sechsten Fall gilt das erst recht, denn diesmal ist der Hauptkommissar persönlich betroffen. Auf diese Weise können Ferch und Stein, der auch das Drehbuch verfasst hat, den Ermittler von einer ganz anderen Seite zeigen. "Yvonne und der Tod" unterscheidet sich auch atmosphärisch von den früheren Filmen: Steins Stammkomponist Jacki Engelken unterlegt viele Szenen mit stimmungsvollem Jazz, und zwischendurch wird es sogar mal komisch, als Thiel ziemlich unverblümt von einer Tankstellenchefin (Tanja Schleiff) angeflirtet wird ("genau mein Typ"). Er selbst ist diesmal ebenfalls kein Kind von Traurigkeit, wie eine clever integrierte Rückblende offenbart, als er der verschwundenen Titelfigur nach einem gemeinsamen Abendessen ähnlich unmissverständliche Avancen macht.
Zunächst muss der Kommissar jedoch eine Hürde ganz anderer Art nehmen. Zum Auftakt betritt er gemeinsam mit der Spurensicherin (Karolina Horster) eine Wohnung, in der sich die Ratten über einen schon vor Wochen verstorbenen alten Mann hergemacht haben. Der Anblick, den Stein dem Publikum dankenswerterweise erspart, schlägt selbst dem erfahrenen Thiel auf den Magen; ein erstes Signal, dass er doch nicht so hartgesotten ist, wie er sich gern gibt. Der Fall, bei dem die junge Kollegin Lee aus der Vermisstenabteilung um Hilfe bittet, offenbart sich ohnehin als delikat: Freitags hatte Thiel noch ein Date mit Yvonne Gaspers (Katharina Heyer), montags ist sie nicht zur Arbeit im Finanzamt erschienen; ihre Schwester (Helene Grass) macht sich Sorgen. Außer ihm sieht allerdings niemand Gründe für einen Anfangsverdacht: Vermutlich ist die Steuerprüferin kurz entschlossen verreist, zumal sie offenbar nach wie vor ihre Kreditkarte benutzt. Einzig Thiel, der den anderen den innigen Abschiedskuss verschweigt, ist überzeugt, dass irgendwas nicht stimmt, zumal es in der Wohnung nach Chlor riecht; er kennt den Geruch von Tatortreinigungen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Neben dem fesselnden Fall, der tatsächlich lange Zeit völlig offen bleibt, ist "Yvonne und der Tod" nicht zuletzt wegen der Teamarbeit sehenswert. Das gilt sowohl für die kriminalistischen Methoden wie auch für das Ensemble. Gerade das Zusammenspiel zwischen Ferch und Kotbong Yang als etwas übereifrige und recht redselige junge Kollegin mit dem phonetisch treffenden Nachnamen Sooyoung macht viel Spaß; es wäre der Reihe zu wünschen, dass sie die Abteilung wechselt und das KK1 (Verbrechen gegen das Leben) verstärkt. Lee, die bei Bedarf wie auf Knopfdruck die jeweiligen Paragrafen runterrasseln kann, betrachtet den älteren Kollegen, der gern auch mal inoffizielle Wege einschlägt, zunächst zwar durchaus kritisch, entwickelt aber im Verlauf der gemeinsamen Arbeit eine starke Loyalität.
Fast noch interessanter sind die Details der Polizeiarbeit. Die Spur von Yvonnes Smartphone führt Richtung Holland; Thiels technisch versierter Kollege Koller (Moritz Führmann) hat ein Gerät, mit dem sich ein Funkmast simulieren lässt, um das Telefon aufzuspüren. Yvonnes Wagen ist auf der Autobahn geblitzt worden, am Steuer sitzt allerdings der junge Ägypter Iskander (Aziz Dyab), dessen Onkel eine Firma für Fassadenreinigung betreibt. Wie Koller im Mönchengladbacher Revier dessen Weg Richtung Südeuropa nachvollzieht, ist gleichermaßen spannend wie faszinierend. In Piräus kommt es schließlich zum Finale, bei dem Thiel auf den Mann im Hintergrund trifft. Dessen Identität ist zwar dank seiner einschlägigen Besetzung zumindest für Krimifans keine große Überraschung, aber wie Yvonnes Verschwinden und Iskanders Flucht miteinander zusammenhängen, ist ein reizvolles Rätsel.