TV-Tipp: "Schneller als die Angst"

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22. Juni, ARD, 21.45 Uhr
TV-Tipp: "Schneller als die Angst"
"Wir sind doch eine Familie", heißt es in Polizeifilmen gern, aber selbstredend ist das suggerierte Gefühl von Sicherheit und Solidarität trügerisch; die schlimmsten Verbrechen werden schließlich innerhalb von Familien begangen.

Tatsächlich hat die junge Magdeburger LKA-Fahnderin Sonja Becker, genannt Sunny (Friederike Becht), allen Grund dazu, sämtlichen Mitgliedern ihrer Abteilung zu misstrauen, aber das kann sie zunächst noch nicht ahnen. Dass sie neben der Spur ist, hat einen anderen Grund: Nach einer Party ist sie in ihrer eigenen Wohnung vergewaltigt worden. Der maskierte Täter hat ihr K.o.-Tropfen verabreicht, weshalb sie sich nur bruchstückhaft an das Verbrechen erinnern kann. Beim nächsten Einsatz haben ihre Nerven versagt, eine Kollegin ist deshalb in große Gefahr geraten. Anschließend hat sie eine Lungenentzündung vorgetäuscht und sich eine fünfwöchige Auszeit genommen. Nach ihrer Rückkehr will sie dort weitermachen, wo sie vor der Party aufgehört hat, aber das funktioniert natürlich nicht, zumal ihrem Chef, Ralf Keller (Thomas Loibl), nicht verborgen bleibt, das mit seiner besten Frau irgendwas nicht stimmt. Als ein dutzendfacher Frauenmörder aus dem Gefängnis ausbricht, überträgt Keller die Einsatzleitung nicht Sunny, sondern Markus Fechner (Christoph Letkowski).

Clever verteilen die Drehbücher dieser auch über die Dauer von 270 Minuten jederzeit fesselnden, handlungsreichen und immer wieder überraschenden Miniserie (eine Wiederholung aus dem Jahr 2022) die Spannung fortan auf zwei Ebenen: hier das Beziehungsgeflecht innerhalb des Teams, dort die Jagd auf den Serienkiller, die sich schon bald zu einem Katz-und-Maus-Spiel zuspitzt, als der Mörder, André Haffner (Felix Klare), in Sunny eine ebenbürtige Gegnerin erkennt. Die Polizistin wiederum ist völlig auf sich allein gestellt: Sie findet raus, dass der Vergewaltiger ein Kollege sein muss. Außerdem ist Haffner der Polizei stets einen Schritt voraus, und dafür kann es nur eine Erklärung geben: Jemand aus der Abteilung muss ihn mit Informationen versorgen. 

Inhaltlich liegt der Reiz der Geschichte neben dem Erzählmuster "Allein gegen alle" vor allem in der Ambivalenz der beiden Hauptfiguren: Sunny ist gleichzeitig Jägerin und Opfer, wie ultrakurze Rückblenden und einige Panikattacken immer wieder ins Gedächtnis rufen. Friederike Becht ist in beiden Facetten glaubwürdig: hier die drahtige Polizistin, die sich erfolgreich in einer Männerwelt behauptet, dort die zutiefst verletzte und entsprechend fragile Frau, die ihre Wut auf den Mörder projiziert. Felix Klares Rolle ist sogar noch vielschichtiger.

Haffner, ein begnadeter Manipulator, wählt mit Vorliebe selbstbewusste Frauen aus, die er mit seinem Charme um den Finger wickelt. Der Darsteller musste also ein Mann sein, der nicht bloß attraktiv ist, sondern auch die nötige Ausstrahlung hat. Entsprechend klug war die Entscheidung, ihn von einem Sympathieträger verkörpern zu lassen. Klare hat solche "Doppelrollen" schon öfter gespielt, etwa in dem Drama "Zweimal lebenslänglich" (2015) als mutmaßlicher Mörder, aber der Rahmen einer Serie bietet natürlich ganz andere Möglichkeiten, die Untiefen einer Figur auszuloten. Fast noch grausiger und daher auch eindrücklicher als die beiläufig ausgeführten Morde sind die seelischen Abgründe, die der Serienmörder immer wieder offenbart, wenn er zum Beispiel beschreibt, wie er es genießt, wenn er in den Augen seiner Opfer erst Verlangen, dann Panik und schließlich die Dunkelheit hinter dem Licht erblickt. Eine vergleichbare Ambiguität prägt das Miteinander der Polizistin und des Mörders: Die Jägerin und ihre Beute tauschen einige Male ihre Rollen. In dieser Hinsicht hat das krimiserienerfahrene Autorenduo Klaus Arriens und Thomas Wilke vorzügliche Arbeit geleistet; von der Komplexität ihrer raffinierten Geschichte ganz zu schweigen. 

Zum Glück waren die auch binnendramaturgisch sehr plausibel konzipierten Drehbücher bei Florian Baxmeyer und Kameramann Marcus Kanter in guten Händen. Baxmeyer hat zuvor für Netflix "Tribes of Europa" (2021) gedreht und mit Kanter diverse "Tatort"-Episoden aus Bremen inszeniert. Die auffallend kreative Kameraarbeit und der Schnitt (Friederike Weymar) sind dynamisch, aber nie hektisch, die Blickwinkel bieten einen abwechslungsreichen Mix aus subjektiven und objektiven Perspektiven; vielen Einstellungen ist anzusehen, dass die Bildgestaltung besonders sein sollte, ohne sich über die Handlung zu erheben. Die ARD zeigt die weiteren Folgen Montag und Dienstag ebenfalls ab 21.45 Uhr.