Putin propagiert den "russischen Islam"

Drohnenaufnahme des Kreml in Kazan (Russland)
JackF/iStockphoto/Getty Images
Kasan gilt als informelle Hauptstadt des Islam in Russland. Unweit des dortigen Kreml steht auch die zweitgrößte Moschee des Landes (zu sehen links im Hintergrund).
Rolle der Muslime im Ukraine-Krieg
Putin propagiert den "russischen Islam"
Etwa 20 Millionen Muslime leben in Russland. Das Regime hat sie fest im Blick und versucht sie, an sich zu binden. In der Bewertung des Ukrainekriegs oder des "dekadenten" Westens decken sich die Ansichten vieler Muslime mit denen der orthodoxen Kirche.

Der Islamwissenschaftler Andreas Jacobs ist stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Analyse und Beratung in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Nun hat er sich für eine Aufsatzsammlung mit der Rolle des Islam in Russland auseinandergesetzt. Für ihn ist überraschend, dass Russland nicht einfach nur russisch-orthodox ist.

"Es wird immer gesagt, das orthodoxe Christentum sei massiv prägend für die russische Kultur und Geschichte. Tatsache aber ist, dass die Präsenz von Muslimen auf dem Gebiet des heutigen Russlands älter ist als die Präsenz von Christen", sagt Jacobs. 90 Prozent der rund 15-20 Millionen Muslime in Russland gelten als sunnitisch, 10 Prozent zählen zur schiitischen Minderheit.

Die muslimischen Siedlungsgebiete gelangten zum Großteil zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert unter russische Kontrolle. Zu diesen Gebieten gehörten zunächst die Wolgaregion, der Ural und Westsibirien, später dann die Krim sowie Teile der Ukraine und des Nordkaukasus. Die meisten Muslime leben in der Wolgaregion - vor allem in Tatarstan mit der Hauptstadt Kasan, die als die informelle Hauptstadt des Islam in Russland gilt. Dort befindet sich die zweitgrößte Moschee des Landes. Dort sitzen auch viele theologische Würdenträger und Geistliche.

Schon das Zarenreich versuchte, die Muslime eng an sich zu binden. Katharina die Große hatte per Dekret schon 1788 die Orenburger muslimische geistliche Versammlung einberufen, womit sie Kontakte zu den islamischen Institutionen und Strukturen im Land im Sinne der Zentralregierung herstellen konnte.

Loyalität wird belohnt

"Das war der Nukleus der russischen Islampolitik bis heute: Zentralisierung, Loyalisierung, aber gleichzeitig auch eine gewisse Privilegierung und die Einräumung von begrenzten Religionsfreiheitsrechten", erklärt Jacobs.

"Putin hat aktiv Brücken gebaut", sagt Islamwissenschaftler Andreas Jacobs.

Ähnlich wie die Kirche wurde auch der Islam zu Sowjetzeiten drangsaliert. Das problematische Verhältnis zum russischen Zentralstaat zeigte sich dann in den Tschetschenienkriegen der 1990er Jahre. Anfangs waren die tschetschenischen Separatisten noch säkular und nationalistisch motiviert, später dann mehr und mehr islamistisch. Mit dem zweiten Tschetschenienkrieg konnte sich der damalige russische Premierminister Wladimir Putin als Retter Russlands inszenieren. Von den Muslimen erwartet Putin inzwischen vor allem Loyalität.

Dafür macht er Geschenke. So ist mit staatlicher Unterstützung die Moskauer Kathedralmoschee heute eine der größten Europas. Dafür will er aber nicht nur einen Islam in Russland, sondern einen auf seine Politik hin ausgerichteten "russischen Islam".

Heiliger Dschihad gegen die Ukraine

"Putin hat in seiner Propaganda immer wieder darauf hingewiesen, dass es zwei große religiöse Traditionen im eurasischen Raum gibt, nämlich das orthodoxe Christentum und den Islam. Das ist die Grundlage der Ideologie. Putin hat ganz aktiv Brücken aufgebaut zum Islam in Russland und gesagt, es handele sich um eine spezifische Form des Islam - nämlich den russischen Islam, der sich unterscheide von dem, was in den Kernländern des muslimischen Raumes so gelehrt und gelebt wird", sagt Islamwissenschaftler Jacobs.

Mit einigem Erfolg. So rief der oberste Geistliche Scheich-al-Islam Taddschuddin, Vorsitzender und Oberster Mufti der Zentralen geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands, schon 2014 zum Heiligen Dschihad gegen die Ukraine auf. Es gab andere Rechtsgelehrte, die die muslimischen Gefallenen in der Ukraine zu Märtyrern erklärten. Dabei gebe es Gemeinsamkeiten mit der russisch-orthodoxen Kirche. Andreas Jacobs nennt das Brückennarrative.

Kadyrow als Vorzeige-Muslim

"Die wichtigsten muslimischen und othodoxen Würdenträger sind gegen LGBTQ-Rechte, gegen Gay-Paraden, gegen Teile der Menschenrechte, gegen eine ‚Verwestlichung‘. Man ist sich einig in der Ablehnung des Westens, in der Betonung des eurasischen Raumes und der Ansprüche Russlands, die sich daraus ergeben", sagt Jacobs.

Putin hofft mit der Einbindung der russischen Muslime auch der islamistischen Gefahr entgegentreten zu können. Erinnert sei etwa an den Terroranschlag bei Moskau am 22. März 2024 mit mehr als 140 Toten. Seine Wurzeln hat dieser islamistische Terrorismus nicht zuletzt im Nordkaukasus. Eine Sonderrolle kommt dabei dem Präsidenten der tschetschenischen Teilrepublik, Ramsan Kadyrov zu, weiß Islamwissenschaftler Jacobs.

"Das ist eine Art gegenseitige Kosten-Nutzen-Rechnung zwischen Putin und Kadyrow. Kadyrow will im innertschetschenischen Machtkampf im Nordkaukasus die Oberhand behalten. Er hat Widersacher, die seine Position in Frage stellen. Auf der anderen Seite ist Kadyrow für Putin und das Regime sehr wichtig, weil er als muslimischer Vorzeigepräsident Legitimation generiert, aber eben auch für Ruhe im Kaukasus sorgt. Putin konstruiert im In- und Ausland die Fiktion eines ‚islamfreundlichen‘ Russlands."

Kämpfer auch auf ukrainischer Seite

Für Putin ist Kadyrow die ideale Figur, um einerseits die muslimischen Gruppen in der Kaukasusregion zu kontrollieren und andererseits im In- und Ausland die Fiktion eines "islamfreundlichen" Russlands zu konstruieren. Der vermeintlich starke und gefürchtete Kadyrow ist somit eine Figur der russischen Kriegspropaganda.

"Kadyrow hat eine gewisse Strahlkraft und Kontakte zu einigen muslimischen Akteuren im Ausland", sagt Andreas Jacobs. "Man sagt immer, er hätte gute Drähte nach Saudi-Arabien und auch in den Irak. Sein militärisches Auftreten und sein Machismus sind hier für einige ansprechend. Und dass er dann noch Muslim ist und eine dezidiert islamische Agenda und Rhetorik pflegt, ist nicht schädlich. Putin ist ihm auch sehr weit entgegengekommen und hat ihm gestattet, dass in Tschetschenien die Scharia eingeführt wird. Polygamie ist dort erlaubt, ebenso wie die Zwangsverschleierung. Da ist man schon sehr weit auf ihn zugegangen."

Also ist der Islam, genauer der staatlich geförderte "russische Islam", ein wichtiger Machtfaktor der putinschen Innen- und Außenpolitik. Aber mit einem gewissen Bumerangeffekt: Längst nicht alle Muftis in Russland rufen zum Heiligen Dschihad gegen den Westen und gegen die Ukraine auf. Oppositionelle Zentralasiaten, Tartaren, Flüchtlinge aus den turksprachigen Republiken Russlands, ehemalige Syrien-Kämpfer und Dschihadisten kämpfen auf ukrainischer Seite. Gegner Kadyrows haben sich in zwei Bataillonen auf ukrainischer Seite zusammengeschlossen. – Der Krieg gegen die Ukraine ist somit auch eine Art Religionskrieg.

Buchtipp: Andreas Jacobs, Islam und Muslime im russischen Angriffskrieg: Dschihad gegen die Ukraine?, in "Religiöse Elemente im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Propaganda, Religionspolitik und Seelsorge, 2012-2024", ibidem-Verlag 2025