Auf der Suche nach Verzauberung

Decke in der Frauenkirche in Dresden.
epd-bild/Matthias Rietschel
Der Blick nach oben: Decke in der Frauenkirche in Dresden.
Plädoyer für mehr Demut
Auf der Suche nach Verzauberung
Ein Leben und eine Welt voller Verzweckung, Funktionalität und Berechnung. Ist das wirklich alles? Das Leben braucht Momente der Verzauberung, davon ist Günter Hänsel überzeugt. Sie sind sogar lebensnotwendig.

Kürzlich besuchte ich die Dresdner Frauenkirche. Weit vorne Platz genommen schaue ich zum Altar. In der Mitte des Altars ist Jesus im Garten Gethsemane zu sehen. Verlassen, verängstigt und allein sitzt er da. Seine Hände sind gefaltet und er kniet. Seine Freunde schlafen, gerade jetzt hätte Jesus sie so dringend gebraucht. Er bleibt in dieser Situation jedoch nicht ganz allein. Ein Engel wendet sich ihm zu. Im Lukasevangelium heißt es dazu: "Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn" (Lukas 22,43). In einem Moment tiefer Verlassenheit bricht etwas Unerwartetes ein. Jesu Blick geht zu diesem Engel. Er schaut von sich selbst weg und schaut  zu etwas Größerem hin. Für mich ein Moment der Verzauberung. Es ist Schönheit, die verzaubert. Der Altar in seiner Schönheit tröstet und versetzt ins Staunen.

Momente des Verzaubertseins empfange ich von etwas anderem als mir selbst. Es ist ein Moment der Verwandlung, der Verbundenheit und des Aufgehobenseins. Von etwas, einem Gedanken, einem Bild, einer Begegnung, einer Musik oder einem Ort, tief berührt und getröstet zu werden, darin liegt für mich ein Verzaubertsein. Diesem Verzaubertsein liegt eine Haltung der Offenheit und Unverfügbarkeit zugrunde. Es ist vielleicht eine spielerische und sanfte Sehnsucht nach einem "Es muß doch mehr als alles geben", so ein Buchtitel der evangelischen Theologin Dorothee Sölle.

Dass es mehr geben muss als nur einen rein digitalen und abgekühlten Zugang zum Leben, dagegen schreibt der Autor und Journalist der Süddeutschen Zeitung Tobias Haberl an: "Ich glaube, wir könnten unser Leben wieder verzaubern, wenn wir diesen Glauben an die Technologie wieder ein bisschen zurückschrauben, den Glauben an die Berechenbarkeit des Lebens wieder ein bisschen zurückschrauben und uns wieder mehr bewusst werden, sagen wir mal, dass das Leben eine Gnade – wenn man religiös sprechen will – ist oder unreligiös gesprochen ein Geschenk ist, das vor allem in seinen unberechenbaren Momenten eigentlich erst zu großen Glücks- oder Sinnerfahrungen kommen kann."

In seinem Glauben an Gott und im Gebet findet Tobias Haberl Geborgenheit und Wärme: "An guten Tagen verändert sich beim Beten mein Körpergefühl, dann werde ich ruhiger, die Nackenschmerzen treten in den Hintergrund, ich spüre eine Wärme und fühle mich geborgen, genau am richtigen Ort. Ich glaube, dass viele Menschen diesen Zustand kennen, wenn man nicht mehr agiert, sondern von etwas oder jemandem an die Hand genommen wird, wenn man die Kontrolle abzugeben bereit ist, weil man spürt, dass alles gut ist, dass alles passt."

Ich frage mich in diesen Tagen immer wieder, ob unser Leben nicht zu stark entzaubert wurde? Ein Leben voller Verzweckung, Funktionalität, Berechnung und stetiger Kalkulierung, ist das wirklich alles? Eine Welt, in der so vieles verzweckt wird, auch menschliche Nähe, ist das alles? Stillt das den Hunger und den Durst der Seele? Unsere Seele bleibt doch schutzlos zurück, wenn sie allein einem Zweck und Nutzen unterworfen wird.

Der Philosoph Jonas Zorn beschreibt in seinem kürzlich erschienenen Buch "Ökonomisierung des Persönlichen. Wie der Markt Freundschaft und Liebe erobert" (Reclam, 2024), wie kapitalistische Strukturen und ökonomische Prinzipien sich auf freundschaftliche und intime Beziehungen abfärben. Jonas Zorn fragt sich auch, wie unsere Beziehungen von der Logik der Marktwirtschaft befreit werden können. Er beschreibt am Ende seines Buches Haltungen des Widerstands gegen eine Ökonomisierung des Menschlichen: Verbundenheit, Dankbarkeit, Zweckfreiheit, Absichtslosigkeit und Fürsorge. Gesellschaftlich sprechen wir vermehrt über Einsamkeit und Vereinzelung. Das ist gut so, wobei die Scham über die Erfahrung von Einsamkeit zu sprechen, weiterhin hoch ist.

"Wie wäre es, wenn wir im Kleinen aus der Logik der Vereinzelung aussteigen und uns öfter einander fürsorglich und absichtslos zuwenden?"

Die Erfahrung von Einsamkeit passt eben schwer in ein Leben, dass den Glauben an die größtmögliche Selbstverwirklichung und Autonomie stark pflegt. Einsamkeit, Trauer und Verluste darf es in diesen Glaubenssätzen nicht geben, wenn dann nur um diese wieder einem Optimierungsstreben zu unterwerfen, eben schnell wieder glücklich zu sein. Es braucht ein Dagegenleben zu diesen Glaubenssätzen. Ja, es braucht Haltungen des Widerstands, wie sie Jonas Zorn beschreibt. Ich sehne mich nach einer Gesellschaft, die viel mehr auf Beständigkeit menschlicher Beziehungen setzt. Wie wäre es, wenn wir im Kleinen aus der Logik der Vereinzelung aussteigen und uns öfter einander fürsorglich und absichtslos zuwenden? Ohne Zweck und Kalkül, sondern aus Fürsorge und Verbundenheit? Für den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber ist das lebensnotwendig: "Wenn wir aufhören uns zu begegnen, ist es, als hörten wir auf zu atmen."

Gerne schaue mit einem kindlichen Blick in den Himmel und das voller Staunen. Wir haben das als Kinder gekonnt und können das wieder lernen. Wenn ich in den weiten Himmel schaue, erahne ich in solchen Momenten: Das Leben ist eingebettet in etwas Größeres. Ich bin als Mensch im Geheimnis des Lebens aufgehoben. Das weckt Demut und Ehrfurcht. Der Theologe Fulbert Steffensky meint: "Vielleicht hat die Entzauberung der Welt dazu geführt, dass wir in grenzenlos imperialer Geste uns alles unterwerfen. Wer kein Tabu kennt und die Heiligkeit der Dinge nicht sieht, wird zu ihrem Zerstörer."  In der Demut liegt eine stille Kraft. Sie ist ein altes Wort. Mit Demut ist keine niedergedrückte Lebenshaltung gemeint, sondern in einer demütigen Haltung liegt Würde verborgen. Demut heißt im Lateinischen so wunderbar "humilitas". Humilitas kommt von "humus", also Erde: Ich bin aus Erde und werde zur Erde zurückkehren. Ich bin Erdwesen und ich weiß als Mensch um meine Möglichkeiten und Grenzen.

Demut ist jedoch mehr als eine Tugend. Sie ist die im Innersten des Menschen gespürte Lebensgewissheit, dass das Leben verdankt, eben ein Geschenk, ist. Eine Offenheit, die aus der Vereinzelung löst und zu dem Anderen öffnet, dem Größeren, hin. Von mir selbst wegzuschauen und mit offenen Augen das Andere sehen, das tut unserer Gesellschaft gut. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat das die "Mystik der offenen Augen" genannt: die Fähigkeit, hinzusehen und mitzufühlen. Hinzusehen, wo Menschen leiden, weil sie ausgebeutet und misshandelt werden.

"Wir sind mit allem Leben verbunden. Den Zauber des Lebens zu spüren, meint dem Leben und allem Lebendigen mit Ehrfurcht zu begegnen und damit den Eigenwert zu entdecken"

Diese Berührbarkeit muss bewahrt werden. Sie kann verlorengehen, das meint auch der Benediktinermönch David Steindl-Rast. Kürzlich sagte er in einem Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), dass es die Ehrfurcht vor dem Leben ist, die wesentlich verloren gegangen sei. Bei Ehrfurcht geht es nicht um Angst vor etwas, sondern um einen Moment des Berührtseins von etwas, das größer ist als ich selbst. Dieses Staunen weckt Ehrfurcht vor dem Leben. Menschliche Allmachtsgedanken haben diese Seite des Lebens lange verschüttet. Seit einigen Jahren gehe ich mit Menschen schweigend um den Schlachtensee. Wir nehmen die Schönheit der Natur wahr, auch ihre verletzte Seite. Bei dem Gang um den See geht es um das Einüben einer Haltung des Lauschens: Von Tieren, Bäumen und Pflanzen sind wir umgeben.

Sie sind Schwestern und Brüder, wie sie der Heilige Franz von Assisi in seinem "Sonnengesang" bezeichnet. Für viele Menschen ist das eine neue Erfahrung: Wir sind mit allem Leben verbunden. Den Zauber des Lebens zu spüren, meint dem Leben und allem Lebendigen mit Ehrfurcht zu begegnen und damit den Eigenwert zu entdecken. Der Historiker Jörg Lauster bezeichnet das Christentum in seiner Kulturgeschichte als "Die Verzauberung der Welt" . In allem leuchtet das Geheimnis Gottes auf und verzaubert die Welt.

Für Christinnen und Christen ist die Welt deshalb nicht stumm, sondern wird von Gottes Geist durchdrungen. In diesem Mehr liegt eine Spur in den Alltagsmomenten die leise Ahnung wahrzunehmen, dass das Leben von göttlicher Gegenwart umhüllt ist.

Die Krisen unserer Zeit können erschöpfen und ängstigen. So braucht es gerade jetzt in dieser Zeit eine spirituelle Ansprache unserer Seele. Sie ist so lebensnotwendig. Das können Bilder, Texte, Orte, Begegnungen und Melodien sein, die inmitten aller Bedrängnis Halt geben und ein Gefühl des Aufgehobenseins stiften. Ich finde in dieser Zeit Halt und Inspiration in Liedern. Das Lied "Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott" (Melodie: Anders Ruuth, um 1968; 1984 "La paz del señor") geht mir in diesen Tagen besonders zu Herzen.

Es ist ein Lied in Spannung von Sehnsucht und Melancholie. Das Lied begeisterte 1984 bei einem Chorkonzert in Frankfurt am Main so sehr, dass sich Eugen Eckert, Pfarrer und Liedtexter, dafür entschied, einen deutschen Text zu verfassen. Bis heute wird dieses Lied zu verschiedenen Anlässen gerne gesungen. In der zweiten Strophe heißt es: "Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, sei mit uns in allem Leiden. Voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten, voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten." Die Sehnsucht nach Gottes Nähe in Zeiten der Bedrängnis und des Leidens kommt in der zweiten Strophe bittend zur Sprache. In Zeiten des Aufbruchs, des Wandels und des Verlustes eben nicht allein zu sein, aus diesem Vertrauen zu leben, das tröstet. Dieses sanfte Vertrauen weist auf das Mehr unseres Lebens hin. Dieses Vertrauen in Gott lebt auch in der Hoffnung, dass das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist, sondern bei Gott geborgen ist. In Liebe und Wärme.

Vielleicht ist es das, was Tobias Haberl im Gebet erfährt, wenn er schreibt: "Meine Lieblingsstelle aus der Bibel ist Psalm 23: 'Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir.' Ein mächtiger Vers, der auf den Punkt bringt, was mich immer wieder zum Beten führt. Es ist die Sehnsucht nach der Liebe Gottes, dem ich nicht gleichgültig bin, der mich versteht und mir zuhört. Es ist das tröstliche Gefühl, nicht allein zu sein, in diesem Moment nicht, und in der Stunde meines Todes auch nicht." 

Kann es mehr als das alles geben? Regelmäßig verbringe ich einige Tage in einem Benediktinerkloster. Über die vielen Jahre, in denen ich dieses Kloster nun schon aufsuche, ist dieser Ort für mich zu einem Kraftort geworden. Es ist ein Ort, wo mein Leben Momente der Verzauberung erfährt. Dort ahne ich das Geheimnis, vom göttlichen Geist umgeben und getragen zu sein. Während der Tage im Kloster lasse ich mich ganz auf den Alltag der Mönche ein. Die Gebetszeiten geben dem Alltag eine heilsame Struktur. Sie unterbrechen den Alltag und geben Zeit zum Innehalten. Gebetet wird nach dem "Benediktinischen Antiphonale", dem Stundenbuch der Benediktiner.

Ausgehend vom Hebräischen wurden die Psalmen ins Deutsche übersetzt. Die Psalmen werden während der Stundengebete gesungen. Besonders gerne singe ich den Hymnus zu Beginn des Mittagsgebets am Mittwoch: "Die Glut des Mittags treibt uns um, die Stunden eilen wie im Flug; du, Gott, vor dem die Zeiten stehn, laß uns ein wenig bei dir ruhn."

Diese Worte gehen mir immer wieder zu Herzen. Sie drücken meine Sehnsucht aus. Bei Gott zu ruhen, in ihm geborgen zu sein, das ist eine Grunderfahrung spirituellen Lebens. Während meiner Klosterzeit gehe ich dieser Sehnsucht nach. In Zeiten der Stille, ob in der Klosterkirche, in der Krypta oder während eines Spaziergangs auf dem Schweigeweg: Ich bin einfach da, vor Gott und verweile in seiner Gegenwart. Mein Kraftort "Kloster" ist für mich zu keinem Ort der Weltflucht geworden, sondern zu einem Ort, der mich mitten in dieser Welt, immer wieder neu Kraft und Hoffnung schöpfen lässt. Ich gehe anders von ihm in den Alltag zurück: Manchmal mit einer offenen Frage, einer Inspiration, auch Wehmut kommt mal vor, doch vor allem mit Vertrauen und Dankbarkeit.