"Zunahme bei Transoutings zeugt von offenerer Gesellschaft"

Portait eines Mannes auf bunten Sessel
UKM/Thomas
Transidentität ist keine Krankheit, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Georg Romer.
Jugendpsychiater
"Zunahme bei Transoutings zeugt von offenerer Gesellschaft"
Der Kinder- und Jugendpsychiater Georg Romer hat langjährige Erfahrungen in der Behandlung von Transkindern und -jugendlichen. Wer über lange Zeit das Gefühl habe, er lebe im falschen Körper, könne dadurch krank werden, erläutert Romer im Interview mit dem epd.

Darum sei Abwarten bei der Behandlung meist nicht der richtige Weg. Dass sich mehr Menschen als trans outen, hängt aus seiner Sicht mit der größeren Offenheit des gesellschaftlichen Umfeldes zusammen.

epd: Herr Romer, in welchem Alter wird es für die meisten Menschen offenbar, dass sie im falschen Körper stecken?

Georg Romer: Da kennen wir alles. Von eindeutigen Äußerungen ab dem dritten Lebensjahr eines Kindes über erstmalige Störgefühle gegenüber dem Geburtsgeschlecht in der Pubertät bis hin zu einer Selbsterkenntnis, trans zu sein, die erst im Laufe des Erwachsenenalters deutlich wird. Viele Erwachsene berichten dabei, dass sie diese innere Gewissheit schon als Kind in sich getragen haben, jedoch ihr halbes Leben versucht hätten, sich an ihr vorgegebenes Geburtsgeschlecht anzupassen. Ähnliche späte Coming-Out-Prozesse kennen wir auch bei der Homosexualität.

In meinem Umfeld wird das Thema präsenter. Gibt es eine Zunahme von transidenten Jugendlichen oder wird einfach offener darüber gesprochen?

Romer: Zu beobachten ist eine allgemeine Zunahme des Phänomens, dass Jugendliche sich im Zuge ihrer Identitätsentwicklung auch vorübergehend in diversen queeren Rollen ausprobieren. Das dürfen wir allerdings nicht mit einer anhaltenden Geschlechtsinkongruenz gleichsetzen. Darüber hinaus gibt es in den vergangenen zehn Jahren auch eine stetige Zunahme transgeschlechtlicher Outings von Jugendlichen, die im Gesundheitswesen psychotherapeutische und medizinische Versorgung in Anspruch nehmen wollen.

Hier unterscheidet sich der zu beobachtende Anstieg jedoch nicht wesentlich von dem bei 18- bis 30-jährigen Erwachsenen, sodass wir es hier nicht mit einem besonderen Phänomen des Jugendalters zu tun haben. Ich halte es für plausibel, dass dies mit der zunehmenden Offenheit der Gesellschaft und den verbesserten Versorgungsangeboten im Gesundheitswesen zusammenhängt. Auch hier gibt es eine Parallele zur Homosexualität, zu der sich heute deutlich mehr Jugendliche offen bekennen als noch vor 20 Jahren, wobei niemand deswegen ernsthaft behauptet, dass es heute mehr Menschen mit homosexueller Orientierung gibt.

"Auch hier gibt es eine Parallele zur Homosexualität, zu der sich heute deutlich mehr Jugendliche offen bekennen als noch vor 20 Jahren, wobei niemand deswegen ernsthaft behauptet, dass es heute mehr Menschen mit homosexueller Orientierung gibt"

Sie haben gemeinsam mit weiteren Fachleuten eine Leitlinie zur medizinischen Behandlung von Transjugendlichen erarbeitet, die in Kürze veröffentlicht wird. Was regelt sie im Kern?

Romer: Die Leitlinie wurde unter Beteiligung von 27 medizinischen und psychotherapeutischen Fachorganisationen und zwei Patientenvertretungsorganisationen nach den vorgegebenen Regeln der Arbeitsgemeinschaft für wissenschaftlich medizinische Fachgesellschaften erarbeitet. Sie kann derzeit von den Mitgliedern beteiligter Organisationen kommentiert werden. Wir hoffen, die Endfassung im Sommer veröffentlichen zu können.

Im Kern werden darin die fachlichen Standards für die psychotherapeutische und medizinische Behandlung von Jugendlichen beschrieben, die an einer dauerhaft anhaltenden Geschlechtsdysphorie, also einer Abweichung von biologischem und psychisch empfundenem Geschlecht, leiden oder sich noch in einer diesbezüglichen Selbstfindungsphase befinden. Dies soll Ärztinnen und Therapeuten fachliche Orientierung bieten in einem Feld, in dem es noch viel Unsicherheit gibt.

Warum ist eine solche Leitlinie notwendig? Ist Transidentität denn behandlungsbedürftig?

Romer: Transidentität ist keine Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation hat aber eine anhaltende Geschlechtsinkongruenz als einen Zustand definiert, bei dem anzuerkennen ist, dass viele dieser Menschen nur mit medizinischen Maßnahmen zur Angleichung ihres Körpers an ihr empfundenes Geschlecht dauerhaft psychisch gesund bleiben können. Alleinige Psychotherapie bleibt da wirkungslos.

Psychotherapie mit dem Ziel, die empfundene Geschlechtsidentität in Richtung des Geburtsgeschlechts zu verändern, wäre zudem nicht nur unethisch, sondern ist in Deutschland bei Jugendlichen gesetzlich verboten. Da die Behandlungsentscheidungen in jedem Einzelfall sehr komplex sein können, bedarf es fachlicher Standards für die erforderliche medizinische Sorgfalt.

Man könnte meinen, die Medizin müsste einheitlicher Meinung sein, dennoch gibt es Kontroversen mit Blick auf die Behandlung Jugendlicher. Warum ist das Thema so aufgeladen?

Romer: Es gibt zum einen ideologische Barrieren. Auch in der Medizin gibt es Kollegen, die sich weiterhin vorstellen, dass Transgeschlechtlichkeit eine psychische Störung sei, die man bei jungen Menschen um Himmels willen doch nicht mit körpermedizinischen Maßnahmen "zementieren" dürfe. Zudem gibt es ein verständliches Unbehagen angesichts der ethischen Herausforderung an uns Behandelnde.

Neben dem erforderlichen Schutz junger Menschen vor möglicherweise verfrühten Entscheidungen, die später bereut werden könnten, ist das Recht junger Menschen auf Selbstbestimmung über die eigene geschlechtliche Identität ein hohes schützenswertes Gut. Dieses beginnt nicht erst mit dem 18. Lebensjahr. Sobald einer dieser beiden wichtigen ethischen Aspekte einseitig betont wird, entsteht Polarisierung in der Debatte.

Sie plädieren dafür, durchaus früh einzugreifen und eine Behandlung etwa mit Hormonen zu beginnen, warum?

Romer: Das medizinethische Dilemma, vor dem wir in jedem Einzelfall stehen, besteht darin, dass Abwarten bei Jugendlichen keineswegs eine neutrale Option ist, sondern durch die im Jugendalter fortschreitende irreversible Verweiblichung oder Vermännlichung des Körpers anhaltendes Leid erzeugen kann. Die hohe Rate psychiatrischer Erkrankungen bei erwachsenen Transpersonen zeugt davon.

Eine bereits in transweiblicher Identität gefestigte Jugendliche dem Schicksal zu überlassen, eine tiefe männliche Stimme, breite Schultern und männlichen Bartwuchs zu entwickeln, würde lebenslanges Leid verursachen und wäre unethisch. Kann bei sorgfältiger Indikationsstellung eine solche Behandlung in der Jugend beginnen, gehen diese Menschen als Erwachsene überwiegend unbeschwert durchs Leben.