Er ist einer von Vielen, der Bettler am Bahnsteig. Stundenlang läuft er auf und ab. Es ist sehr warm und er hat Durst, furchtbaren Durst. Auch sein Magen knurrt, die letzte kleine Mahlzeit ist Stunden lang her. Es geht nicht anders: Er muss fragen. Und doch kostet es ihn Überwindung, die Wartenden anzusprechen, sie um Geld zu bitten, ihnen nahe zu kommen. Vor allem, wenn er merkt, wie sehr sich die Leute bedrängt fühlen von ihm. Weil er sie stört, sie unterbricht, sie konfrontiert mit einer Wahrheit, die viele nicht wahrhaben wollen: Es geht nicht allen gleich gut.
Das jedenfalls stelle ich mir vor. Dass ihm bewusst ist, wie unerwünscht er ist. Dieser Bettler. Dieser Aussätzige. Dieser Störenfried. Es ist ihm anzumerken, dass er das weiß. Weil er den Kopf so tief gesenkt hält, seine Frage so zögerlich wirkt, nicht aufdringlich, sondern eher sehr beschämt. „Haben Sie vielleicht ein wenig Kleingeld für mich?“, fragt er leise und ich merke schon, wie sich meine Schultern reflexartig straffen, ich „Nein!“ sagen will, eine Entschuldigung murmeln, vielleicht sogar eine Lüge: Ich hätte kein Kleingeld dabei. Es tue mir wirklich leid. Aber ich könne ja nicht jedem etwas geben. Innerlich wende ich mich ab, wimmle ihn ab, will nichts mit ihm zu tun haben, mit diesem Fremden. Weil er auch mir vor Augen führt, wie gut es mir geht, wie sorglos ich lebe, manchmal geradezu gedankenlos. Wenn ich hungrig bin, gehe ich zum Bäcker und hole mir ein Brötchen. Oder auch zwei. Es kommt nicht so drauf an. Das beschämt mit einem Mal mich.
Und so ist es eine Sache von Sekunden: Ich entscheide mich. In diesem Moment. Gegen mein Abwenden, gegen meine Lüge. Nicht immer tue ich das, aber heute. Der Bettler hat den Kopf gehoben und schaut mich direkt an. Seine Augen sind hellblau. Sie überstrahlen seine fettigen Haare, seine ungewaschene Kleidung, seine entzündete Wunde am Ellbogen. Für einen Moment sehe ich nicht nur den Bettler in ihm, sondern werfe einen Blick auf den Menschen, der er ist. Auf den Sohn, der er ist. Auf den Bruder, der er vielleicht ist. Abgekommen vom Weg. Ein Suchender, ein Sehnender, einer mit Hunger. So sehr unterscheiden wir uns vielleicht doch nicht. „Klar“, sage ich, „einen Augenblick.“ Ich krame mein Portmonee hervor, sammle meine Münzen zusammen, lege sie dem Mann in die geöffnete Hand. „Alles Gute“, sage ich. Über sein Gesicht huscht ein Lächeln. „Danke, gleichfalls“, sagt er und geht weiter. Der Sohn, der Suchende, der Sehnende. In diesem Moment: mein Bruder.