Bald ist es wieder soweit: Das wohl umstrittenste Fest der Neuzeit steht vor der Tür. Klar, Halloween. Die Kinder ziehen schauerlich verkleidet von Haus zu Haus, schreien „Süßes oder Saures!“ und hoffen auf ein paar Süßigkeiten.
Viele unserer Nachbarn und Freunde sind gebürtige Amerikaner – da konnten wir uns dem Rummel natürlich nicht entziehen. Und unseren Kindern macht's Spaß. Papa ist Pfarrer, na ja, der muss dann abends halt in die Kirche, aber die Kinder ziehen auf der Straße umher. Und auch bei uns brennen Kerzen und leuchten Kürbisköpfe vor der Tür, als Zeichen: Kinder, hier gibt's was für euch!
„Geister!“ schreien einige sehr besorgte Christen. Also, ganz ehrlich: Ich sehe keine. Ich sehe Kinder, die einen Riesenspaß haben, sich gruselig zu verkleiden. Ich sehe ab und zu auch mal welche, die über die Stränge schlagen mit ihren Streichen – doch zumindest bei uns bleibt es normalerweise ziemlich harmlos. Und mal ganz davon abgesehen, wer noch Angst vor Geistern hat, nimmt wohl die Bibel nicht ganz ernst. So schreibt es Paulus im Römerbrief, Kapitel 8:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? (...) Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? (...) Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Da kann ich nur sagen: Dagegen kommt ein Geist nicht an. Schon gar nicht so ein kleiner Halloween-Geist, der in einen Kürbiskopf passt.
Aaaaber... es gibt noch ein ganz anderes Problem. Und das hat damit zu tun, dass Martin Luther (vermutlich) am Vorabend von Allerheiligen („all hallows evening“, kurz „Halloween“) seine 95 Thesen veröffentlich hat. Nun also: Reformationsfest. Wir feiern als Evangelische quasi den Gründungstag unserer Kirche. Vielen ist das wirklich wichtig. Dieser Gottesdienst am Reformationstag, der wird gefeiert. Am besten mit Posaunenchor, Kirchenchor und allem Drum und Dran. Bei uns lädt sogar das Dekanat die Prominenz zu einem Empfang nach dem Gottesdienst. Und dann stehen da so ein paar verkleidete Rabauken vor der Tür und schreien „Süßes oder Saures“? Nee, also, das geht doch wirklich nicht.
Nun sind also eine ganze Menge Evangelische in einer großen Zwickmühle: Einerseits wollen sie den Kindern den Spaß nicht verderben. Kommt ja auch blöd, wenn man sauertöpfisch aus der Tür rausruft: „Heut ist Reformationstag!“ - und birgt außerdem die Gefahr, dass man am nächsten Morgen Zahnpasta an der Türklinke hat oder ähnliche Gemeinheiten. Nein, da muss was anderes her. Und siehe da: Die Lösung ist ja so einfach. Wir verteilen lustige kleine – Lutherbonbons. Ja, wirklich. Untertitel der Werbung: „Die süße Überraschung der Evangelischen Kirche zum Reformationstag“.
Sie schmecken nach Zitrone, Orange oder Johannisbeere. Auf dem Einwickelpapierchen steht drauf: Am 31.10. ist Reformationstag. Und dazu ein Bild von Dr. Martinus Luther mit einem Zwinkerauge. Bei www.lutherbonbon.de kann man auch noch kleine, pädagogisch sicher allerliebste Heftchen zur weiteren Aufklärung der süßsauer dreinschauenden Kinderschar dazubestellen. „Liebste Kinderlein, wunderbar gruselig seid ihr verkleidet! Doch wisset, wir feiern heute ein ganz anderes Fest. Vor bald 500 Jahren hat Dr. Martinus Luther die Kirche reformiert.“ Wenn die Heftchen (ich muss gestehen, ich habe noch keines gelesen) genauso aufgebaut sind wie die Artikel auf der Website, bin ich mir sicher: Die Kinder werden ob der spannenden Lektüre völlig vergessen, weiter ihren Halloween-Geschäften nachzugehen.
Hm. Beeindruckende Missionsstrategie. Wirklich. Nein, jetzt mal ganz im Ernst: Auch wenn ich verstehen kann, dass viele Evangelische diese Bonbons verteilen und dass sie damit einen guten Zweck verfolgen – ich finde die Aktion eher peinlich. Natürlich ist es wichtig, dass die Kinder auch mal von Martin Luther hören. Das tun sie ganz bestimmt im evangelischen Religionsunterricht. Und wie ich mich bei einem Unterrichtsbesuch in der Berufsschule überzeugen konnte: Sie wissen sogar als junge Erwachsene noch, dass am 31.10. nicht nur Halloween ist. Lasst ihnen doch ihren Spaß – oder wollt ihr sie allen Ernstes in einen Reformations-Festgottesdienst einladen?