Heute jährt sich die Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zum 80. Mal. Und wir sind mitten im Wahlkampf. Das ist keine gute Kombination. Wahlkampf ist laut. Gedenken leise. Wahlkampf täuscht. Gedenken braucht Wahrheit.
Vor einem Jahr sprach Marcel Reif anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag. Er sagte einen Satz, der so unscheinbar ist, dass man kaum für möglich hält, wie wichtig er ist: Sei ein Mensch. Sein Vater, ein Holocaust-Überlebender, hatte ihn dem Sohn "oft geschenkt", wie Reif sich ausdrückte, "mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel". "Drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: 'Sej a Mensch!' – 'Sei ein Mensch!'" So endete auch seine Rede: "Und wenn Sie es mir erlauben und wenn Sie mögen – gerade heute aus diesem Anlass und gerade hier in diesem höchsten deutschen Hause –, dann lass ich Ihnen den kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz (…) hier: 'Sej a Mensch!' – 'Sei ein Mensch!'"
Bis heute erinnere ich mich an die drei Worte, die zu Recht zum "Satz des Jahres 2024" wurden, wie der Wahlkampf zeigt. Denn allzu oft zählt das Menschsein nicht, die Menschlichkeit, die Empathie. Stattdessen werden Hass und Hetze, Lügen und Diffamierungen in einem Maße sichtbar, wie ich es mir früher nicht habe vorstellen können, im Land der Täter.
Eine Partei, die "Remigration" zum Ziel hat, also die massenweise "Deportation" auch "nicht assimilierter deutscher Staatsbürger", die Schwule, Lesben, queere und trans Personen verabscheut, die "Abschiebetickets" verteilt (wie es sie bei den Nazis gab), die Hitler zum „Kommunisten“ macht (um sich von ihm abzusetzen), die vom "Vogelschiss in der deutschen Geschichte" spricht, die sagt, man dürfe sich "nicht nur auf die Tiefpunkte unserer Geschichte konzentrieren" (und so das Schoa-Gedenken bagatellisiert), hat vom Menschsein nichts verstanden. Die Rede ist von der NoAfD, die ich so nenne, weil ich ihr nicht die Ehre gebe, ihren Namen auszusprechen oder niederzuschreiben.
Eine Partei, die das Gendern verbieten will (und damit die Menschenwürde missachtet), die das Selbstbestimmungsgesetz abschaffen will (als seien die Betroffenen freiwillig, wie sie sind), die Leuten mit Doppelpass die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen will (was verfassungswidrig ist), die ein Register für psychisch kranke Straftäter einführen will (was an dunkle Zeiten erinnert), auch sie ist vom Menschsein weit entfernt. Die Rede ist von CDU und CSU, die sich "christlich" nennen.
"Sei ein Mensch" verbindet Religionen, Jesus nannte es Nächstenliebe. Es hat Verfassungsrang: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." (Art 1 GG) Das ist die wichtigste Lehre aus der NS-Zeit.
Reif betont, es gehe nicht darum, "Sühne oder gar Rache einzuklagen, sondern um zu erinnern, um zu wecken, wo nötig". Um eine "zweite Chance, es anders zu machen, besser zu machen und es richtig zu machen". "Aber diese zweite Chance darf nicht – darf niemals und nirgends – vertan werden!"
Der Wahlkampf zeigt, wie aktuell die Mahnung ist. Denn selbst ein Wahlkampf, so hart er geführt wird, entschuldigt nichts. Keine Hetze, keinen Hass, keine Lüge, keine Missachtung der Menschenwürde. Auch daran erinnert der 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Das ist die Wahrheit des Gedenkens. Sie gilt uns allen. Immer. Hier, im Land der Täter. Deshalb: Sej a Mensch! Auf Jiddisch. Zur Erinnerung.