NIRGENDWOMEHR

Geistvoll in die Woche
NIRGENDWOMEHR
Wenn Gott NIRGENDWOMEHR zu Hause ist, dann müssen wir ihm ein Haus bauen: eine Villa Kunterbunt für die Schechina.

Zu Beginn der Coronakrise, im März 2020, frug mein damals grad 13 Jahre alt gewordener Sohn mich: Mama, was machen wir, wenn wir wegen der AfD das Land verlassen müssen, aber wegen Corona nicht raus dürfen? 

... ich hatte damals keine gute Antwort parat, denn ich war so erschrocken, dass mein kleiner Junge sich über sowas Gedanken machte.... aber irgendwas hat meine Phantasie dann für ihn als Antwort zusammengebastelt, - etwas, was nach Zuversicht und Freiheit klang.....

Mittlerweile sind alle Reisebeschränkungen wegen Corona aufgehoben, dafür aber sind die AfD-ähnlichen Parteien, wie die letzten Wahlen gezeigt haben, beinah überall in Europa noch mehr auf dem Vormarsch, und seit dem 7.Oktober grassiert darüber hinaus noch Antisemitismus anderer Couleur und die Frage: "Wo ist eigentlich ein sicherer Ort für uns Juden?" muss schlicht und ergreifend mit NIRGENDWOMEHR beantwortet werden.

NIRGENDWOMEHR hat keine geographischen Koordinaten, keine Grenzen, hat keine Stadtmauern, nicht mal Wände und schon gar kein schützendes Dach. NIRGENDWOMEHR ist für uns mittlerweile überall.

Und dieses NIRGENDWOMEHR sitzt tief und uralt in unserer Seele.
Und dieses NIRGENDWOMEHR ist eine immer wiederkehrende jüdische Grunderfahrung.

Das merkt man auch beim Blick in die Psalmen, die immer helfen, wenn das NIRGENDWOMEHR zu schwer auf der Seele lastet.

In meinem hebräisch-deutschen Tehilim-Buch steht bei Psalm 18.3 beispielsweise "... mein Gott,  mein Fels, bei ihm suche ich Zuflucht..." 

Genauso fühl ich das.
Gott ist einer, der das NIRGENDWOMEHR kennt.

Gott ist deshalb auch unsere Zuflucht. 
Zuflucht ist laut Definition Person oder Ort, den jemand in der Not aufsucht, um Schutz oder Hilfe zu bekommen. 

So fühlt sich mein Gott in dieser NIRGENDWOMEHR-Welt auch an. 

Die Schechina ist schon seit ewigen Zeiten im Exil.

Immer unterwegs mit uns, derzeit mal wieder im NIRGENDWOMEHR.

In anderen deutschen Übersetzungen dieses Psalms liest man hingegen oft von einem "sicheren Ort" oder einer "Burg in sicherer Höhe" oder "einer unbezwingbaren Festung", was ganz schön wuchtig und ungeheuer sicher klingt, - und dabei besonders tröstlich sein will. Der Gott dieser Übersetzungen scheint ein echter Safe Space zu sein. 

Nur:

Mein Gott ist mir da etwas anders. 

Er war mir nie eine Burg in unbezwingbarer Höhe. 

Viel eher ist er mir Zuflucht, Fluchthelfer und Flüchtender zugleich. 

Sonst würd er mich ja auch nicht verstehen.
Was für Gespräche führt man denn mit einer festen Burg, die vom NIRGENDWOMEHR keine Ahnung hat, weil sie auf sicherer Höhe thront...?
Eben.

Das NIRGENDWOMEHR müssen wir schon anders bekämpfen. Wir hier. Es ist nicht Gottes Aufgabe, in dieser Welt für Sicherheit zu sorgen. Das ist unser Job. Und ich würde mir wünschen, dass wir alle gemeinsam wieder mehr daran arbeiten, dass diese Welt zu einem sicheren Ort wird. Für uns Juden und für jeden anderen Menschen auch. Etty Hillesum, eine jüdische Schriftstellerin, schrieb in Zeiten der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in in ihr Tagebuch an Gott: „Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott." 

Mein Gott wohnt derzeit im NIRGENDWOMEHR. 

Wir könnten ihn retten. Ihn und uns. 
Vielleicht sollten wir mal versuchen ein Schild, ein Zuhause zu sein. Eine Zuflucht für alle. Und jeden. Jede einzelne kleine Welt in Sicherheit bringen. In ein ÜBERALLHIER. 
Am besten in eine Villa Kunterbunt in unserer Mitte. Eine gute Bleibe für alle.

weitere Blogs

In den USA sind manche Schnellrestaurants durchaus religiös.
Welche sozialen Erwartungen und Normierungen gibt es rund um das Thema Beziehungen? Und was passiert, wenn Menschen Beziehungen bewusst und verantwortlich gestalten? Dieser Blog möchte einführen in ein klassisches Konzept der Poly-Community und dabei anregen, den Blick für ein Mehr zu weiten.
In Kleve wurden gestohlene sakrale Gegenstände wiedergefunden – durch einen Zufall