Neulich war ich in Dessau. Dort ist so viel Platz, dass es erstmal herausfordernd ist, sich zu orientieren. Bis mir Menschen auf der Straße begegnen, dauert es einige Zeit. Mittwochvormittags bin ich so gut wie allein im Museum. Im Linienbus ist Platz, auf Parkbänken auch. Baulücken verheißen flexible Entwicklungsmöglichkeiten. Allein ein Drittel der Bevölkerung hat der Stadt in den letzten dreißig Jahren den Rücken gekehrt.
Die meisten, die hier arbeiten, wohnen ganz woanders. Dort, wo Städte coole Images haben. Und die Besucher:innen, sie werden dorthin gelenkt, wo das Bauhaus als "unique selling point", das Alleinstellungsmerkmal Dessaus, Mehrwert verspricht. Kaum eine Stadt in Europa altert und schrumpft so schnell wie Dessau. Die jüngsten Zahlen zeigen: Die evangelische Kirche altert und schrumpft. Schnell.
Knapp 18 Mio. Menschen in Deutschland trugen im Jahr 2024 durch ihre Kirchenmitgliedschaft dazu bei, dass Beratungs- und Bildungsangebote sowie das kirchliche Leben an vielen unterschiedlichen Orten vorgehalten werden konnten. Die quantitative Entwicklung der Mitgliedschaft in den evangelischen Kirchen liegt damit im Korridor dessen, was sich aus den Daten der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU6) – bei aller Vorsicht – prognostizieren ließ (EKD, 2003, 58). Folgt man der dort erhobenen Spur, dass Austritte aus der evangelischen Kirche umso wahrscheinlicher sind, je ausgeprägter die säkulare Orientierung von Menschen ist, dann handelt es sich um schleichende, aber konsequent fortschreitende Prozesse.
Diese Entwicklungen zeigen sich inzwischen mit einer Dynamik, die organisationale Disruptionen, auch Abbrüche, zeitnah erwarten lässt. Nichts daran ist überraschend. Im Blick auf eine organisational wirksame Zugehörigkeit ist Austritt derzeit in Deutschland die einzige Möglichkeit religiöser Wahl, die quantitativ bedeutsam und damit strategisch relevant ist. Während das evangelische Christentum in Deutschland derzeit jährlich Mitglieder in der Größenordnung einer mittelgroßen Landeskirche verliert, liegt die Entscheidung für den Kircheneintritt im Größenbereich von drei bis fünf Kirchengemeinden.
"Stabilisierende Sozialisationsagenten wie frühkindliche christliche Bildung sowie auch familiale religiöse Prägung fallen zunehmend aus."
Auf ganz Deutschland betrachtet. Austritt macht in etwa die Hälfte des Mitgliederschwundes aus, die andere Hälfte ist demografisch bedingt. In Ostdeutschland ist die Kirchenmitgliedschaft bei den über 70-jährigen signifikant hoch, auch gesamtdeutsch gesehen sind Kirchenmitglieder älter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Zudem machen sich Prozesse, die seit Jahrzehnten – quasi kaum an der Wahrnehmungsschwelle – ablaufen, jetzt bemerkbar: Seit langem sinkt die Taufquote schleichend. In keinem einzelnen Moment ist das alarmierend.
Auf die Dauer gesehen summieren sich allerdings die dadurch fehlenden Bindungseffekte. Stabilisierende Sozialisationsagenten wie frühkindliche christliche Bildung sowie auch familiale religiöse Prägung fallen zunehmend aus. Wie bei anderen gesellschaftlichen Organisationen auch, werden organisationale Zugehörigkeiten "unselbstverständlicher" und instabiler. Im Fall der christlichen Kirchen ist davon der gesamte gesellschaftliche Funktionsbereich des Religiösen betroffen. Denn dass jemand außerhalb eines kirchlichen Kontextes religiös ist, ist derzeit in Deutschland ausgesprochen unwahrscheinlich.
"Für Taufe, Tauferinnerung und alles, was im weitesten Sinne "konfirmierend" ist, zu werben, bleibt zentral."
Mancherorts wird in Reaktion auf diese Entwicklungen gesagt: "Die christliche Botschaft wird dadurch nicht kleiner.", oder: "Andere Kirchen sind auch klein." Beides ist isoliert betrachtet richtig. Gleichwohl gilt aber auch: Die Kirchen in Deutschland können sich nicht davon dispensieren, groß bzw. noch größer gewesen zu sein. Sie können sich nicht davon dispensieren, Anteil gehabt zu haben am Entwicklungs- und Expansionsdenken des 20. Jahrhunderts. Wenn Menschen gehen, bleibt die Infrastruktur zurück. Sie zeugt von dem, was war. Nun gilt es zu lernen, was es bedeutet, dass Fortschritt zu unserem organisationalen Erbe wird. Für kirchliches Selbstverständnis ist es nicht unerheblich, dass wir kleinere Kirchen werden, die nicht immer minderheitlich waren, auch: Die nicht immer in einem multireligiösen Umfeld zu stehen kamen.
Zum anderen: Der Blick darauf, dass über den Wahrheitsgehalt der christlichen Botschaft nicht mit den Füßen abgestimmt wird, mag tröstlich sein. Gleichwohl ist die Weitergabe des christlichen Glaubens als Lebensform etwas, was zwischen Menschen geschieht. Und je weniger Menschen für diese Botschaft stehen, umso wichtiger wird es werden, gezielt kirchliche Kontaktflächen zu schaffen. Für Taufe, Tauferinnerung und alles, was im weitesten Sinne "konfirmierend" ist, zu werben, bleibt zentral.
"Entscheidend wird aber auch sein, wie glaubwürdig Kirchenleute selbst für das Wertversprechen der Kirche eintreten können."
Dafür muss ich sagen können, wofür sich Kirche lohnt und weshalb christliche Communitys of practice das eigene Leben bereichern. Und mich ernsthaft fragen, ob und für welche Lebensstile dies faktisch vor Ort der Fall ist. Neben einer konsequenten Orientierung an den Erlebenssympathien von Menschen tritt damit eine regio-lokale Orientierung. Vielleicht wichtiger als die "großen Zahlen" sind in den Entscheidungen vor Ort die "kleinen" Zahlen.
Sie geben – etwa im Ökumenischen Kirchenatlas – Auskunft über Kirchenzugehörigkeit und Kausalbegehren der Menschen in einer konkreten Region. Von hier ausgehend lassen sich konkrete Ziele finden und benennen. Sodass man sagen kann: "Dafür steht Kirche hier bei uns." Entscheidend wird aber auch sein, wie glaubwürdig Kirchenleute selbst für das Wertversprechen der Kirche eintreten können. Nur Organisationen, die offen zu ihrer Schuld stehen und es ernst damit meinen, selbst zu lernen, werden hier zukünftig Gehör und Vertrauen finden. Deutlicher als bisher wird sichtbar, dass individuelles Wahlverhalten strukturell relevant ist.
"Kirchenaustritt heißt auch: Ich entsolidarisiere mich mit denjenigen Organisationen, die tun, was ich eigentlich erwarte."
Kirchenaustritt heißt auch: Ich entsolidarisiere mich mit denjenigen Organisationen, die tun, was ich eigentlich erwarte. Kirchen unterstützen Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Sie unterhalten Kindergärten, Schulen und Beratungsstellen. Sie ermöglichen, dass viele Menschen ohne große Aufwände kirchliche Veranstaltungen besuchen und Seelsorge in Anspruch nehmen können, dass an evangelischen Akademien Demokratiebildung stattfindet, es gesellschaftsöffentliche Stimmen für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen und #Verständigungsorte inmitten von Polarisierungen gibt. Und einiges mehr.
Dass ich erfahre, was ich erwarte, ohne mich selbst zu beteiligen, ist ein Missverstehen der Demokratie, das die Kirchen zusätzlich zur modernitätstypischen Säkularisierung gravierend trifft. Allüberall werden (zivil-)gesellschaftliche Player schwächer. Die Schwelle, dass Organisationen sich strukturell indifferent zum Zugehörigkeitsverhalten stellen können, ist überschritten. Ein jahrzehntelanges Learning von Menschen, dass ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auch in seinem religiösen Funktionsbereich, für sein Funktionieren augenscheinlich nicht bedeutsam sei, hat sich überlebt. Dabeisein macht einen Unterschied fürs Ganze.
"Alle müssen neu lernen. Einzelne und Organisationen. Was also tun?"
Sich prioritär an Menschen zu orientieren, bedeutet auch: Diesen Lernerfahrungen Raum lassen, sie aktiv ansteuern und kommunizieren. Wer das ernst nimmt, macht auch deutlich: Kirchen wollen fähig sein, Säkularisierung positiv aufzunehmen und sich nicht an ihr als einen permanenten Gegner abarbeiten. Dafür werben sie um Zugehörigkeit. Sie halten Wissen über Religiosität, Glauben und Christentum verfügbar. Sie schaffen punktuell freundliche, höfliche und großzügige Kontaktgelegenheiten. Die Qualität kirchlichen Handelns wird zukünftig vor allem darin liegen, inwiefern es gelingt, unter Bedingungen, die sich rasch verändern, in dieser Weise handlungsfähig zu sein.
Kirchliches Handeln wird konzentrierter, kollaborativer, stellvertretender und sichtbar sein – sozialräumlich verbunden, als kirchlicher Ort definiert und postkonfessionell orientiert. Sein Wertversprechen wird auch sein, Evangelisch-Sein als relevanten, wenn nicht lebensprägenden Beitrag zur Gestaltung des eigenen Lebens plausibel zu machen. In einer Gesellschaft, in der fortschreitend fraglicher wird, welche vormals stabil geglaubten Grundorientierungen noch gültig sind, wird es auch darum gehen, Menschen die Bedeutung ihrer eigenen Gewissensentscheidungen bewusst zu machen und sie darin zu begleiten.
In Dessau kann man Probewohnen. Man hofft auf umtriebige Geister, Kreative und digital-mobile Leute. Solche, die erfahren: Hier ist es einfach, Dinge zu gestalten. Hier kann etwas funktionieren. Ich frage etwas an und erhalte eine freundliche Rückmeldung. Lücken und Leerstände werden bespielt, zumindest dann und wann. Auch gibt es etwas, was andernorts schon lange verloren geglaubt ist. Man ist erstaunt, wie viel geschieht, von dem man gar nichts ahnte. Auch jenseits dessen, was Zahlen abbilden können. Nichts davon kehrt Trends um. Aber das Zutrauen, dies will inmitten solcher Erfahrungen steigen.