Vor ein paar Tagen fragte der Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros in seinem Morning-Briefing: "Geht es Ihnen auch so? Dieser Wahlkampf macht plötzlich Laune." Nein, mir geht es nicht so. Der Wahlkampf ist laut, schrill, unfair, besserwisserisch, neunmalklug, herablassend und: gefährlich. Am Tag zuvor waren in Zwickau und anderen sächsischen Städten Plakate einer rechtsradikalen Gruppe aufgetaucht, auf denen "Hängt die Grünen!" stand. In München auch. Doch während die Münchner Polizei die Plakate sofort entfernte, blieben sie in Sachsen, wo sie waren. Begründung: Die Staatsanwaltschaft habe keine strafrechtliche Relevanz des Slogans feststellen können, da man nicht wisse, "wer konkret angesprochen wird", Politiker*innen oder Wähler*innen. Als käme es darauf an, als gäbe es Mordaufrufe, die man leider, leider hinnehmen muss … Doch die Sache ist nicht witzig, auch nicht bloß "geschmacklos, unanständig und überflüssig", wie die Oberbürgermeisterin von Zwickau sagte, sondern strafbar (Paragraph 111 StGB). Was muss eigentlich passieren, um Rechtsradikale in ihrem Hass zu stoppen?
Am selben Tag waren wir beim Schofarblasen zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana am Münchner Jakobsplatz. Es war eine fröhliche, schöne, stille Feier. Wir lauschten dem Rabbiner, der das Widderhorn "zur Anerkennung Gottes als König, Beschützer und Richter" blies. Wir sangen und die Kinder tanzten. Und wir hörten die Worte von Charlotte Knobloch, die ganz leise waren, weil Mikrophone an hohen jüdischen Feiertagen nicht benutzt werden dürfen, und doch nicht zu überhören. "Die Verunsicherung ist groß", sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde von München. "Der Judenhass bleibt sehr sichtbar, im Internet, auf der Straße, und leider auch in den Parlamenten." - Kein Wort stand darüber in der Zeitung. Der Ruf blieb ungehört für die, die nicht dabei gewesen waren. So ist das eben im Wahlkampf. Das Laute bricht sich Bahn, das Leise verhallt.
In derselben Woche war ich beim Optiker. Wegen meiner Lesebrille. Ich las, er maß, was man halt so tut bei Apollo, Fielmann oder wie sie alle heißen. Kleine Buchstaben, große Buchstaben, unscharf, schärfer, man kennt das. Formulare ausfüllen, kleine Scherze, ein bisschen plaudern. Da sagte der Optiker auf einmal, er denke oft an einen Satz aus der Bibel. Ich stutzte. Aus der Bibel? Ja, sagte er, und zitierte Psalm 90,12: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Ich habe keine Ahnung, wie er auf das Gebet des Mose gekommen war und warum er mir davon erzählte. Wir hatten über nichts gesprochen, was dazu Anlass gegeben hätte. Er hatte es einfach so gesagt.
Seither geht mir der Satz nicht mehr aus dem Sinn. Als sei er neu für mich. Was er nicht ist. Als wisse ich nicht, was der Tod bedeutet. Was nicht stimmt. Und doch haben die Worte, die so unvermittelt daherkamen, vieles geändert. Sie haben mich verändert. Wie ein kleiner Haltepunkt. Und je mehr ich daran denke, desto deutlicher sehe ich, wie viele kleine Haltepunkte es doch gibt. Ich muss nur hinschauen, hinhören. Aber nie im Leben hätte ich gedacht, dass ein Optiker meinen Blick einmal so zurechtrücken würde. Buchstäblich.
Nein, dieser Wahlkampf macht (mir) keine Laune. Aber was kümmert er mich.
Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Auch das lehrt Psalm 90.