Wenn das Eigene zum Fremden wird

Wenn das Eigene zum Fremden wird
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Ilka Quindeau
Wie beeinflussen unbewusste Fantasien unser Leben? Was prägt unser sexuelles Begehren? Und wie wirken sich Geschlechter- und Sexualitätsnormen auf das psychische Wohlbefinden aus? Die renommierte Psychoanalytikerin Ilka Quindeau spricht über diese und andere Fragen im Interview.

Albrecht: Frau Quindeau, Sie sind Professorin für klinische Psychologie. Zu Ihren Forschungs- und Lehrgebieten zählt auch die Geschlechterforschung. Nun ist die akademische Geschlechterforschung aktuell massiv unter Beschuss, einerseits von christlich-fundamentalistischer Seite, anderseits von neurechten Bewegungen. Unter anderem wird der Geschlechterforschung vorgeworfen, ein ideologisch motiviertes Umerziehungsprogramm zu planen, mit dem Ziel, Kinder "früh zu sexualisieren" und die Geschlechter abzuschaffen. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen?

Ilka Quindeau: Diese Vorwürfe gibt es jetzt ja schon seit geraumer Zeit. Sie werden durch vielfache Wiederholung nicht spannender. Oder finden Sie dies im Moment irgendwie relevant?

Albrecht: Allerdings. Die AfD schießt in den Landtagen mit Anfragen, Anträgen und Debatten immer wieder gegen die Gender Studies, zuletzt vor drei Wochen in Baden- Württemberg. Die Publizistin und Juristin Liane Bednarz sieht in ihrem gerade erschienenen Buch Die Angstprediger: Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, den Kampf gegen geschlechtliche und sexuelle Emanzipation als konstitutiv für neurechte Bewegungen. Gerade wurde bekannt, dass solche Organisationen europaweit die Strategie verfolgen, Homosexualität wieder zu kriminalisieren.

Quindeau: Das ist genau mein Punkt. Ich frage mich, ob wir uns durch solche absurden Angriffe nicht in eine unangemessene Verteidigungshaltung bringen lassen und unter Legitimationsdruck geraten. Nachdem diese Debatte jetzt die letzten vier, fünf Jahre penetrant geführt wird, muss ich inzwischen sagen, interessiert mich das eigentlich nicht mehr. Allein solche Anfragen wie die der AfD im Landtag, das sind rituelle Versuche, sich der Richtigkeit der eigenen Überzeugung immer wieder zu überzeugen und seine Anhänger_innen zufriedenzustellen. Also ich nehme das jedenfalls nicht als Anlass, jetzt die Notwendigkeit von Genderforschung zu legitimieren. Dazu gibt es genug gute Gründe, warum Genderforschung notwendig ist. Mehr denn je. Wir haben nach wie vor einen großen Unterschied zum Beispiel in der Bezahlung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland. Das Statistische Bundesamt beziffert den Gender Pay Gap mit 21 Prozent und immer noch ist der Heiratsmarkt für viele Frauen attraktiver als der Arbeitsmarkt. Es gibt einfach eine ganze Reihe soziologischer Fakten, wo Frauen nach wie vor benachteiligt werden in unserer Gesellschaft. Und diese Fakten geraten bei diesen Attacken ziemlich in den Hintergrund. Ich finde, mensch muss über die faktische Benachteiligung sprechen und nicht über  die Attacken. Natürlich kann mensch auch fragen, was bringt diese Menschen dazu, die Genderforschung anzugreifen. Generell ist zu sagen, dass sich bei den rechtspopulistischen Parteien oder Bewegungen eine ausgeprägte Unfähigkeit beobachten lässt, Mehrdeutigkeiten auszuhalten; Ambivalenzen und Widersprüchliches zu ertragen. In der Psychoanalyse nennen wir diese Fähigkeit "Ambiguitätstoleranz". Damit ist gemeint, dass mensch die Welt nicht in schwarz und weiß aufteilen muss, sondern auch Graustufen zulassen kann. Viele Konflikte lassen sich nicht einfach auflösen, sondern mensch muss akzeptieren, dass mensch sie hat, und damit konstruktiv umgehen. Diese Einsicht in die unauflösbare Konflikthaftigkeit des Menschen zählt für mich zu den wichtigsten Errungenschaften der Psychoanalyse und scheint mir unverzichtbar für das Leben in komplexen, modernen Gesellschaften. Und genau dagegen richtet sich der Rechtspopulismus und propagiert diese einfachen, stringenten Lösungen, die es tatsächlich jedoch gar nicht gibt.

Warum nun ausgerechnet das Geschlecht zur Zielscheibe der Rechtspopulisten wird, kann mensch vielleicht damit erklären, dass die Genderforschung darauf zielt, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern sichtbar zu machen und die heteronorme Geschlechterordnung zu kritisieren, die von den Angreifer_innen nicht selten als "Naturgesetz" oder "Schöpfungsordnung" legitimiert wird. Die Privilegierung des Mannes, insbesondere des weißen, soll in ihrer Sicht beibehalten werden. Diese Menschen fürchten also letztlich um ihre Privilegien.

Albrecht: Sie sprechen die Dynamiken an, die hinter den Angriffen auf die Geschlechterforschung stehen. Haben Sie eine Idee, wie ein konstruktiver Umgang mit den Gegner_innen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt so gelingen könnte, dass mensch einerseits Ängste ernstnimmt, ohne den Ängsten andererseits nachzugeben?

Quindeau: Ich glaube, dass es im Wesentlichen eine politische Frage ist, es geht um Macht und die Frage ihrer Verteilung und weniger um eine psychologische Frage, bei der es um Ängste geht. Aber vielleicht kann es auch als politische Strategie hilfreich sein, die Unsicherheitsgefühle, die sich auf diese Weise artikulieren, ernst zu nehmen. Der amerikanische Philosoph Michael Sandel hat eine ganz interessante Überlegung dazu entwickelt, wo er das, was die Rechtspopulisten umtreibt, grievances nennt, was übersetzt werden kann mit Klagen oder auch Beschwerden oder Unmut und Ressentiments. Sandel plädiert dafür, die Rechtspopulisten und Trump-Anhänger nicht einfach nur zu bekämpfen, sondern ihre Befürchtungen ein Stück weit aufzunehmen und zu gucken, ob mensch darüber ins Gespräch kommen kann. Das finde ich nicht uninteressant. Inwieweit dies allerdings bei politischen Parteien wie der AfD politisch umsetzbar wäre, kann ich schlecht einschätzen, weil ich den Eindruck habe, dass die Protagonisten in der Partei überhaupt nicht interessiert sind an einem Dialog. Aber mensch kann vielleicht die potentiellen Wähler und Wählerinnen an dieser Stelle erreichen.

Albrecht: Nicht nur die Geschlechterforschung steht in der Kritik, sondern auch die Psychoanalyse. Immer wieder wird versucht, ihr die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. An vielen Universitäten wird heute beispielsweise im Rahmen der Lehre mehr oder weniger unverblümt erklärt, die Psychoanalyse sei keine empirische Disziplin und daher unwissenschaftlich. Was halten Sie als Psychoanalytikerin solchen Behauptungen entgegen?

Quindeau: Auch so eine Debatte, die uns jetzt seit zwanzig oder dreißig Jahren umtreibt, also die auch keineswegs eine neue wäre. Hier lässt sich zunächst sagen, dass dem ein ziemlich reduktionistisches Verständnis von Wissenschaft zugrunde liegt. Wissenschaft ist ja nicht nur eine empirische, nomothetische Angelegenheit, sondern es gibt ja auch kritische Wissenschaften und als solche würde ich die Psychoanalyse verstehen. Das hat Habermas schon vor vierzig Jahren genau so beschrieben in seinem nach wie vor lesenswerten Buch Erkenntnis und Interesse. Und Matthias Kettner hat sehr treffend das spezifische Erkenntnisverfahren der Psychoanalyse als Abduktionslogik beschrieben, das er der Subsumptionslogik zur Seite stellt.

Problematisch ist es natürlich schon, dass jetzt an den Universitäten die Ansicht vorherrscht, es brauche keine kritischen Wissenschaften mehr, sondern man möge eben nur sogenannte positivistische Wissenschaften im Angebot haben. Das passt sehr gut zum Geist der allgemeinen Studienreform, der Bologna-Reform mit den Bachelor- und Masterstudiengängen, in denen die Ziele meist nur noch in "Kompetenzen" bestehen und eigentlich nicht mehr erwartet wird, dass Studierende kritisches Denken entwickeln und sich eine eigene Position erarbeiten.

Albrecht: Was ist das Kritische an der Psychoanalyse?

Quindeau: Psychoanalyse ist in erster Linie eine Reflexionswissenschaft. Im klinischen Setting wurde ein ausgefeiltes Instrumentarium entwickelt, das Geschehen zwischen Analytiker_in und Analysand_in zu reflektieren. Klassischerweise wird dies als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet. Es geht darum, das, was im Moment, in der gegenwärtigen Situation passiert, zu reflektieren. Paradigmatisch gesehen geht es in der therapeutischen Situation darum, die Beziehungsformen, die sich zwischen Analytiker_in und Analysand_in entwickeln, wahrzunehmen und zu rekonstruieren. Als Analytikerin stelle ich der Patient_in meine Eindrücke zur Verfügung und wir kommen darüber ins Gespräch, versuchen, uns darüber zu verständigen. Dieses Verfahren, diese Methode der spezifischen Reflexion lässt sich natürlich auch auf andere Gegenstände anwenden, zum Beispiel auf gesellschaftliche Prozesse oder kulturelle Gegebenheiten. In diesem Moment der (Selbst-)Reflexion besteht die Kritik; das, was gerade geschieht, wird nicht als selbstverständlich hingenommen, sondern in gewisser Weise ver-fremdet. Das Eigene wird zum Fremden, es wird dem Subjekt selbst erklärungsbedürftig. Als Fremdes im Kern des Eigenen, im Kern des Subjekts, wird das Unbewusste verstanden - die Zentralkategorie der Psychoanalyse.

Albrecht: "Weiblichkeit", "Männlichkeit", "Homosexualität", "Heterosexualität", das alles sind Begriffe und Kategorien, deren Angemessenheit Sie in Ihren Veröffentlichungen immer wieder kritisch hinterfragen, weshalb?

Quindeau: Ja, weil ich glaube, dass die Kategorisierung einem normativen Denken entspricht und die Welt in gut und schlecht einteilt und Vorgaben macht, was richtig ist und was erwünscht ist. Aber die Wirklichkeit ist weit komplexer und mensch wird den Einzelnen nicht gerecht, wenn sie in solche Schubladen reinpackt werden. Das dient im Wesentlichen der Reduktion vom Komplexität - so eine Art Orientierung, um im Alltag besser zurecht zu kommen. Aber es hat eben den problematischen Beigeschmack der Vereinheitlichung, der Normierung und von daher lehne ich dies ab - auch, weil es immer wieder zum Einfallstor für Diskriminierungen wird. Zum Beispiel ist die Kategorie Homosexualität als psychologische Kategorie nicht sinnvoll, weil sie eine Einheit und Einheitlichkeit von unterschiedlichsten Phänomenen suggeriert, etwa: es gäbe einen einheitlichen Entstehungsweg dazu oder gar eine Ätiologie. Eine Ätiologie ist die Lehre von der Entstehung von Krankheiten. Und Homosexualität ist keine Krankheit, also braucht man dazu auch keinen einheitlichen Entstehungsweg postulieren. Die Entstehung von Homosexualität ist vermutlich so vielfältig und subjektiv wie jede einzelne Lebensgeschichte von Schwulen und Lesben. Da macht es dann keinen Sinn, ein allgemeines Modell aufstellen zu wollen.

Mit den Geschlechtern ist es ganz ähnlich, also der Vielfalt der Ausprägungsformen von Geschlechtern wird die schlichte Gegenüberstellung, die Dichotomie von Männlichkeit und Weiblichkeit überhaupt nicht gerecht. Und was wir jetzt mit steigenden technischen Möglichkeiten sehen können, etwa aus dem Bereich der Genforschung, ist, dass zum Beispiel Intersexualität gar nicht ein so seltenes Phänomen ist wie man das bisher gedacht hat. Es gibt vielmehr eine große Variation von Männlichkeiten und Weiblichkeiten, so dass man sich das Geschlecht besser als ein Kontinuum vorstellen kann. Männlichkeit und Weiblichkeit bilden dabei zwei Pole, zwischen denen sich die Einzelnen dann irgendwo dazwischen verteilen. Es gibt dabei aber niemals eine reine Ausprägung, also ausschließlich weiblich oder ausschließlich männlich. Das erscheint mir interessant, dass sich jetzt über solche technologischen Neuerungen andere Blicke ergeben auf das Verständnis von Geschlecht. Besonders spannend ist dabei, dass wir nun etwas empirisch belegen können, wovon Freud vor über hundert Jahren schon ausgegangen ist. Er hat das Geschlecht schon damals als Kontinuum konzipiert, mit seiner Theorie der konstitutionellen Bisexualität, die aber dann  ziemlich schnell in Vergessenheit geraten ist.

Albrecht: Was würden Sie sagen, aus Ihrer Forschung, aber auch aus Ihrer psychotherapeutischen Praxis heraus: Wie wirken sich diese heteronormativen Geschlechter- und Sexualitätsnormen auf die menschliche Psyche aus? Auf das Wohlbefinden, das Erleben und Verhalten?

Quindeau: Das ist natürlich ein ganz spezifischer Blick, den ich als Analytikerin von meiner Profession her habe. Zu mir kommen ja in erster Linie Menschen, die an etwas leiden. Natürlich leiden sie im Wesentlichen nicht unter ihrem Geschlecht. Aber ich glaube schon, dass Geschlechternormen das Erleben der Einzelnen beeinträchtigen. So fragen sich erstaunlicherweise auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch viele, ob sie ein "richtiger" Mann oder eine "richtige" Frau sind, also Fragen, die mensch vermutlich schon lang für überwunden hielte. So fühlen sich manche kinderlose Frauen weniger "weiblich"  oder fürchten sich manche Männer vor ihren Wünschen nach Schutz und Geborgenheit, die sie für unmännlich halten. Das heißt, es gibt offenbar eine ganze Reihe von normativen Vorstellungen  in unserer Gesellschaft darüber, wie sich ein Mann oder eine Frau verhalten muss, was er oder sie erleben, denken oder fühlen kann. Das ist schon deswegen interessant, weil wir auf den ersten Blick in unserer liberalen Gesellschaft vermutlich eine andere Idee haben, so nach dem Motto: Anything goes. Das stimmt aber - glaube ich - auf einer tieferen Ebene nicht mehr; das heißt, die Normierungen, denen jeder Mensch unweigerlich im Laufe der Sozialisation ausgeliefert ist, reichen doch weit tiefer, als man die zunächst denken mag. Als Psychotherapeutin glaube ich, dass es den Menschen deutlich besser ginge, wenn es weniger Normierungen gäbe.

Albrecht: In Ihren Veröffentlichungen beschreiben Sie die  menschliche Sexualität als ein hochkomplexes Phänomen. Sie verstehen unter Sexualität weit mehr als einen biologisch determinierten Trieb. Sie arbeiten immer wieder die Bedeutung der Gesellschaft für die sexuelle Konstitution des Menschen heraus. Wie kann man sich das genau vorstellen?

Quindeau: Die Bedeutung der Sozialität für das Sexuelle schätze ich als sehr grundlegend ein. Die zentrale Idee des französischen Analytikers Jean Laplanche, die ich für sehr plausibel halte, besteht darin, dass sich das Sexuelle in einer sozialen Beziehung, also in der Beziehung zwischen Mutter und Kind oder der Bezugsperson und dem Kind entwickelt. Das Sexuelle ist also kein genetisches Programm, das sich im Verlauf der Entwicklung reifungsbedingt entfaltet, sondern es entsteht direkt nach der Geburt im "primären Befriedigungserlebnis", wie Freud das nannte, in der Regel beim Stillen, aber auch beim Wickeln und Baden. Hier entstehen die erogenen Zonen des kindlichen Körpers durch elterliche Einwirkungen bei den Pflegehandlungen. Laplanche nennt die bei allen Menschen vorkommenden, unbewussten sexuellen Phantasien der Eltern bei der Pflege des Säuglings "rätselhafte  Botschaften", auf die das Kind mit der Entstehung seiner eigenen Lust antwortet. Lediglich die Reproduktionsfähigkeit ist genetisch veranlagt, aber davon ist das Sexuelle zu unterscheiden. Das ist eine wichtige Differenzierung, die im Alltag nicht gemacht wird. Deswegen spricht Laplanche auch nicht von Sexualität, sondern vom Sexuellen. Das Sexuelle ist viel umfassender und bezieht sich auf das gesamte Begehren, die vielfältigen Befriedigungsmodalitäten. Die genitale Sexualität im Erwachsenenalter ist nur ein Teil davon, das Sexuelle geht weit darüber hinaus. Die Lust- und Befriedigungsformen sind am Anfang des Lebens entlang der vitalen Körperbedürfnisse organisiert und umfassen orale Modalitäten wie Essen, Lutschen und Atmen oder anale Modalitäten wie lustvolles Ausscheiden und Zurückhalten oder genitale Modalitäten wie Eindringen und Aufnehmen. Dieser erweiterte Sexualitätsbegriff  ist schon eine Grundthese von Freud, er hat das damals "Trieb" genannt. Ich halte das inzwischen nicht mehr für einen passenden Begriff, denn er hat zu vielfältigen Missverständnissen geführt. Daher würde ich eher vom Begehren sprechen, das unterschiedlichste Formen annehmen kann und das in der (frühkindlichen) Beziehung (zur Bezugsperson) entsteht und sich dann auf die nachfolgenden Beziehungen (im Erwachsenenalter) ausweitet. 

Albrecht: In queeren und feministischen Kontexten hält sich die Ablehnung der Psychoanalyse als Teil legitimer Theoriebildung hartnäckig. Die einen verweisen auf ältere Konzepte wie den Penisneid, andere auf vergangene Ausschlüsse von Homosexuellen bei der Psychoanalytiker_innenausbildung. Hat die Psychoanalyse ein homophobes oder anti-homosexuelles Erbe? Und wie geht sie mit diesem Erbe um?

Quindeau: Unzweifelhaft gibt es leider ein homophobes Erbe, eins was äußerst problematisch ist. Das beginnt auch schon bei Freud. Zwar gibt es viele Stellen in seinem Werk, die sehr liberal sind, wo er etwa sehr deutlich macht, dass es überhaupt keinen Grund gibt zum Beispiel Homosexualität als behandlungsbedürftig auszuweisen. Damals haben sich etwa die Eltern eines lesbischen Mädchens an ihn gewendet und wollten, dass die Tochter in Behandlung kommt, und er stellte dann nach einer Sitzung fest, dass die Tochter völlig  in Ordnung und gesund sei und dass es keinerlei Anlass gäbe zu einer Psychoanalyse. Das sind sehr klare Positionen, die er eingenommen hat. Andererseits teilt er aber auch die homophobe Haltung seiner Zeit. Es gibt sehr unschöne Geschichten, zum Beispiel damals mit Magnus Hirschfeld, der auch ursprünglich Analytiker war und von dem Freud sich – auch auf Druck von anderen vielleicht – relativ schnell getrennt hat.

Und dann gibt es die sehr problematische Tradition, dass lesbische und schwule Kolleg_innen nicht zur Ausbildung zugelassen wurden und zwar weltweit. Nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in Südamerika. In Deutschland wurde das aber eigentlich nie explizit mit der Homosexualität begründet. Es gab also keinen offiziellen Ausschluss, sondern es war eigentlich noch ein Stück perfider, weil die Nicht-Zulassung damit begründet wurde, dass die Kolleg_innen nicht analysierbar seien oder zu narzisstisch oder ähnliches. Das heißt, man hat ihnen pauschal aufgrund ihrer sexuellen Orientierung die Eignung für den Beruf abgesprochen. Ich halte es grundsätzlich für notwendig und sinnvoll, dass wir bei den Bewerbungen zur psychoanalytischen Ausbildung Eignungsgespräche führen, aber es ist natürlich skandalös, eine ganze Gruppe von Bewerber_innen auf solche Art auszuschließen. Dies lässt sich nicht anders erklären als mit homophoben Vorurteilen.

Dann gab es noch die weitere Problematik, dass es gerade in Amerika, weniger in Europa, eine ganze Reihe feindseliger Theorien zu Homosexualität und ihrer Entstehung gab. Das verbindet sich mit Namen wie zum Beispiel Charles Socarides in den USA. Sie lesen sich dann wie wüste Beschimpfungen, da wird von Maskerade gesprochen und Täuschung, also wirklich ganz unglaublich für eine wissenschaftliche Theorie. Aber sie waren damals in den 1960er- und 1970er-Jahren sehr verbreitet; und davon hat sich die amerikanische Psychoanalyse in den 1980er, 1990er-Jahren sehr dezidiert abgesetzt. In den USA gibt es jetzt eine deutlich größere Gruppe homosexueller Kolleg_innen als hierzulande, die inzwischen eine andere Atmosphäre entwickelt haben in den psychoanalytischen Instituten, deutlich weniger diskriminierend.

Im Moment wird diskutiert, inwieweit Transpersonen, die "neuen Homosexuellen" sind, da gibt es immer noch Kontroversen. Ich war vor zwei, drei Jahren in New York und hatte dort erlebt, dass sich ein_e Kolleg_in während der Lehranalyse als Mann geoutet hat und da gab es einen ziemlichen Aufruhr in dem Institut. Es ging darum, ob das gehe oder ob man die Person ausschließen muss. Da fühlten sich dann einige lesbische und schwule Kolleg_innen sehr an die Zeit von vor dreißig Jahren erinnert, als ähnliche Diskussionen in Bezug auf Homosexualität geführt wurden, und verteidigten ihre_n Kolleg_in.

Da sind wir im Moment noch nicht in Europa, in Deutschland. Natürlich werden inzwischen auch lesbische oder schwule Kolleg_innen zugelassen, aber die selbstkritische Auseinandersetzung mit unserer homophoben Vergangenheit steht noch an. Da gibt es Diskriminierungen in unserer Theorie und Praxis, die liegen noch tiefer, da ist es nicht damit getan zu sagen, bei der Zulassung gibt es keine Diskriminierung mehr, sondern unsere Theorie ist ja in vielen Punkten auch sehr normativ. Beispielsweise geht man davon aus, dass es für die psychische Entwicklung wichtig ist, Kinder zu bekommen. Das sind so mehr oder weniger latent vorhandene Normierungen, die durch nichts gedeckt sind und die einen heteronormativen Lebensstil voraussetzen. Das heißt, die Heteronormativität läuft an vielen Stellen unserer Theorie mindestens implizit mit. Und ich glaube, dass es noch einiger Anstrengungen in den nächsten Jahren bedarf, diese Stellen ausfindig zu machen und zu kritisieren.

Albrecht: Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass wenn von analytischer Psychotherapie die Rede ist, viele homo-, bi- und auch transsexuelle oder transgeschlechtliche Menschen ein großes Unbehagen verspüren. Sie haben Angst, in der Psychotherapie Diskriminierung zu erleben, weil ihre sexuelle und/oder geschlechtliche Identität, wenn auch nicht offen geäußert, aber doch, seitens der Therapeutin als Symptom gesehen wird. Ist diese Angst auch heute noch berechtigt? Und was würden Sie LGBTTs raten, die überlegen, eine analytische Psychotherapie in Anspruch zu nehmen und die solche Ängste hegen?

Quindeau: Man kann leider nicht völlig ausschließen, dass diese Angst nicht immer noch durch das Verhalten mancher Praktiker_innen genährt wird. In den letzten Jahren habe ich eine ganze Reihe von Trans*personen in Behandlung  gehabt und immer wieder zum Teil wirklich haarsträubende Geschichten gehört. In den USA gibt es Listen von Therapeut_innen, die als "gay-friendly" oder "LGBT*-friendly" gelten. Wir denken gerade darüber nach, ob dies nicht auch in Deutschland sinnvoll wäre für die Suche nach Analytiker_innen. Das stellt sich leider nicht so einfach dar. Aber es gibt oft keine Alternative zu einer Analyse. Wenn es jemandem schlecht geht und er oder sie das Bedürfnis verspürt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, kann die Psychoanalyse nicht durch irgendeine andere Psychotherapieform ersetzt werden. Diese intensive Form der Auseinandersetzung mit den unbewussten Dimensionen des eigenen Erlebens bietet nur die Analyse. Gerade im Bereich der Identitätsfragen, der geschlechtlichen ebenso wie der sexuellen, spielen die unbewussten Phantasien eine zentrale Rolle. Von daher würde ich auf jeden Fall dazu raten eine Analyse aufzunehmen. Es gibt inzwischen doch eine ganze Reihe von Kolleg_innen, die ihre normativen Vorannahmen selbstkritisch hinterfragen und ein Bewusstsein dafür haben, wo sie möglicherweise diskriminieren. Niemand von uns ist frei davon. Ich kann das leider auch für mich selber nicht behaupten, dass ich niemals diskriminiere, doch ich versuche zumindest diesem Problem gegenüber offen und selbstkritisch zu sein. Und so gibt es mittlerweile  einige Kolleg_innen,  wo mensch sicher sein kann, dass sie sich der Heteronormativität und der Diskriminierungen bewusst sind und mit denen mensch dann auch über diskriminierende Erfahrungen ins Gespräch kommen kann.

Eine alltägliche Schwierigkeit in der klinischen Praxis liegt ja zum Beispiel schon gleich in der Anrede. So gehen wir meistens sofort davon aus, dass jemand männlich oder weiblich ist, indem wir Herr oder Frau sagen. Aber das passt eben für mache Menschen nicht und da merke ich, dass ich da immer wieder auch ins Stocken gerate. Also, dass meine Selbstverständlichkeit, mit der ich jemanden als Herr oder Frau adressiere, einfach infrage gestellt ist; damit muss mensch sich immer wieder auseinandersetzen und sich bewusst machen, wie schnell und unabsichtlich es zu Diskriminierungen kommt.

Albrecht: Sie haben gerade gesagt, es gibt keine Alternative zur analytischen Psychotherapie. Was kann die Psychoanalyse Menschen bieten, die aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität Diskriminierung, Gewalt und sogar Traumatisierungen erfahren haben?

Quindeau: Sie haben das jetzt sehr stark eingeschränkt auf Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen. Aber LGBT*Personen kommen ja aus ganz unterschiedlichen Gründen, nicht nur, weil sie Probleme haben mit ihrer Sexualität oder Geschlechtlichkeit, sondern aufgrund von Beziehungskonflikten oder Depressionen und vielem mehr. Das ist ja auch noch ein wichtiger Punkt, dass man nicht davon ausgehen kann, dass es permanent um sexuelle oder geschlechtliche Identität ginge. Aber was wir anbieten können als Analytiker_innen im Unterschied zu anderen ist einfach die Auseinandersetzung mit den unbewussten Fantasien und das ist das, was wir für entscheidend halten in der Verursachung psychischen Leidens. Das sind Fantasien, Erklärungen für rätselhafte Fragen, die man sich irgendwann mal in früheren Zeiten gemacht hat und die im Laufe des Lebens unbewusst geworden sind. In der kindlichen Welt ging es damals vielleicht um die Frage, warum die Mutter krank geworden ist oder die Eltern sich getrennt haben. Das Kind gab sich in seinem magischen Denken oft selbst die Schuld daran und suchte nach Erklärungen in seinem Verhalten, wie etwa, weil es sein Zimmer nicht aufgeräumt hat oder wütend auf die Mutter war und sie loswerden wollte, und entwickelte Schuldgefühle, die allerdings mit der Zeit ihren Gegenstand verloren haben und dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich waren. Doch sind sie damit nicht verschwunden, sondern bleiben weiterhin handlungswirksam; das heißt, dass sie das bewusste Erleben und Denken immer wieder unterlaufen. Die Schuldgefühle suchen sich bspw. einen neuen Gegenstand aus dem aktuellen Alltag oder werden häufig auch auf andere projiziert und dort bekämpft. An diese Fantasieebenen oder an diese Schicht des Erlebens kommt man einfach nicht mit anderen Therapieverfahren. Und gerade bei Diskriminierungserfahrungen ist es ja so, dass da eine ganz fundamentale Anerkennung infrage steht. Es sind Anerkennungsstrukturen, die uns das ganze Leben begleiten von der Geburt an. Jede Person hat Kränkungserfahrungen gemacht und die gesamte Geschichte der Kränkungserfahrungen aktualisiert sich gleichsam im Moment einer aktuellen Diskriminierungserfahrung. Um das dann wenigstens auch ein Stück weit verarbeiten zu können, ist es notwendig, die Geschichte dieser Kränkungserfahrung mit in den Blick zu nehmen, etwa gemeinsam zu rekonstruieren, welche Fantasien ein Kind vielleicht damals dazu entwickelt hat. Ansonsten könnten wir immer nur sehr an der Oberfläche bleiben und nicht an das kommen, was wirklich schmerzlich ist.

Darüber hinaus ist politische Arbeit zentral, also politisch daran zu arbeiten, dass die Heteronormativität sichtbarer und die damit verbundenen Diskriminierungen weniger werden. Aber ganz befreien lässt sich die Welt sicher nicht davon. So geht es für uns als Analytiker_innen darum, die Person zu stärken, damit Diskriminierungen nicht eine so psychisch verheerende Wirkung entfalten können.

lka Quindeau (geb. 1962) ist Soziologin, Psychologin, Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DPV/IPV) in eigener Praxis sowie Professorin für Klinische Psychologie an der Fachhochschule Frankfurt am Main und ab Herbst 2018 Präsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Geschlechter-, Sexualitäts-, Trauma- und Biographieforschung.

Literaturtipps zum Weiterlesen:

  • Ilka Quindeau. Psychoanalyse. UTB Profile (2008).
  • Ilka Quindeau. Sexualität. Psychosozial (2014).

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