Que(e)r gelesen: Josef und seine Brüder

Que(e)r gelesen: Josef und seine Brüder
Bunter Stoff
Foto: Kerstin Söderblom
Im Alten Testament wird von einem jungen Mann berichtet, an dem sich die Geister geschieden haben. Es geht um Josef, den Sohn von Jakob und Rahel. Eine que(e)re Bibellektüre erweitert das Bild über Josef in überraschender Weise.

Josef war ein ruhiger und verträumter junger Mann. So steht es im 1. Buch Mose.
Er dachte sich Geschichten aus, träumte versonnen vor sich hin und blieb bei den Zelten seiner Eltern Rahel und Jakob. Seine Brüder tollten lieber herum und suchten das Abenteuer.
Als Jugendlicher musste Josef trotzdem zusammen mit seinen Brüdern Schafe hüten. Eines Tages schlachteten die Brüder ein Tier, obwohl der Vater es verboten hatte. Josef war entsetzt und berichtete seinem Vater davon.
Er zog damit die Wut der Brüder auf sich. Von seinem Vater bekam er zum Dank einen bunten Rock geschenkt. Josef trug den Rock des Vaters gerne und war stolz darauf. Wenig später hatte Josef zwei Träume, die davon handelten, dass sich zunächst seine Brüder, dann auch seine Eltern vor ihm verbeugen mussten. Daraufhin wurden seine Brüder noch wütender auf ihn. Einige Zeit danach wurde Josef zu seinen Brüdern aufs Feld gerufen. Als er dort ankam, überwältigten sie ihn und schlugen ihn. Sie zogen ihm seinen Rock aus und stießen ihn in eine Grube. Später verkauften sie den Bruder für 20 Silberlinge an einen Kaufmann, der mit einer Karawane an ihnen vorbeizog. Dem Vater zeigten sie den Rock von Josef, den sie vorher mit Tierblut beschmiert hatten und erklärten Josef für tot.

Was mittlerweile mehrere Bibelwissenschaftler und Forscherinnen herausgefunden haben: Der Ausdruck, mit dem Josefs Rock auf Hebräisch beschrieben wird ("kethoneth passim"), benennt das Kleid einer Königstochter, also einer Prinzessin. Der selten benutzte Ausdruck wird zum Beispiel im 2. Buch des Propheten Samuel (13. Kap., Vers 18 f.) für das Kleid der Tochter eines Königs benutzt.

Josef trug das Kleid einer Prinzessin? Unmöglich! Ein Auserwählter Gottes in Frauenkleidern?
Ein Held mit femininen Zügen? Unvorstellbar! Diese Information passte nicht ins Männerbild der Bibelgelehrten. Auch nicht in die christliche Tradition, ins Menschenbild der Gläubigen. Es passte nirgends und niemanden. Entsprechend wurde die Information oft vernachlässigt und verdrängt.

Aber woher kam die Brutalität, ja fast Raserei, mit der die Brüder Josef brutal schlugen, ihn demütigten, den Rock zerrissen und Josef in eine Grube schmissen, bis sie ihn schließlich verkauften? Woher kam der Hass?  

Im biblischen Text wird mehr als einmal deutlich gemacht, dass Josef anders war: ruhiger, verträumter, femininer. Kam zum Neid und zur Eifersucht der Brüder vielleicht noch die Angst vor dem Fremden dazu? Haben sie sich vom Anderssein des Bruders abgegrenzt? Josef durfte nicht so sein, wie er war: sensibel, voller Geschichten und Träume. Die Norm für junge Männer gab etwas anderes vor: Körperliche Stärke, Abenteuergeist und Machtinstinkt.

In Philadelphia gibt es einen schwarzen Dichter. Er heißt J. Mase III. Er bezeichnet sich selbst als transsexuell und "queer", also quer zu allen Kategorien von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung. Er hat die Josefgeschichte der Bibel genau studiert und darüber in kreativer Weise ein Gedicht geschrieben. Es heißt "Joseph - Josephine - Jo". Er hat es auf Youtube veröffentlicht.
Hier ein übersetzter Ausschnitt daraus:

"Joseph / Josephine / Jo,
... du hast (den Rock) mit Stolz getragen, offen, ohne Scham. Es tut mir leid, was dir danach geschehen ist.
 Jo, als deine Brüder dich im fließenden Kleid in all deinem Glanz gesehen haben,
wurden sie wütend. Es tut mir so leid, dass du geschlagen wurdest.

Es tut mir so leid, dass du geblutet hast,
dass sie dein Kleid zerrissen und es mit der roten Farbe deiner geschwollenen Venen beschmiert haben.“
(Übersetzung, K.S.) 

Aber der Verrat ist nicht das Ende der biblischen Geschichte. Josef wurde nach Ägypten verschleppt und an Potifar, den Obersten Befehlshaber des Pharaos, verkauft. Dort arbeitete Josef als Sklave, bis sich Potifars Frau in ihn verliebte. Sie machte ihm mehrfach Avancen, die Josef allesamt abwehrte. Da beschuldigte sie Josef, dass er sie vergewaltigt habe, und Josef wurde ins Gefängnis geworfen. Im Gefängnis deutete er Träume von verschiedenen Menschen. Seine Deutungen  erwiesen sich allesamt als richtig. Als der Pharao später selbst zwei Träume hatte, die niemand in seinem Reich verstand, ließ er Josef rufen und erzählte ihm die Träume. Beim ersten Traum ging es um sieben fette und um sieben magere Kühe. Die mageren fraßen die fetten. Beim zweiten Traum handelte es ich um sieben dicke und sieben dünne Ähren. Die dünnen verschlangen die dicken.

Josef deutete beide Träume: Nach sieben guten Erntejahren in Ägypten würden sieben karge Jahre kommen. Daher sollte der Pharao in den guten Erntejahren seine Speicher für die Hungerjahre füllen. Dem Pharao leuchtete Josefs Deutung unmittelbar ein. Er tat wie Josef es ihm geraten hatte. Die Entwicklungen der nächsten Jahre bestätigten Traum und Deutung. Josef wurde aus dem Gefängnis entlassen und nach dem Pharao zum zweiten Mann in Ägypten ernannt. Während viele Nachbarvölker unter Hungersnot litten, hatten die Ägypter dank ihrer Vorratswirtschaft genügend Nahrungsmittel zur Verfügung. Das sprach sich schnell herum unter den Nachbarvölkern. So kam es, dass auch Josefs Brüder nach Ägypten kamen. Sie wollten Getreide vom Pharao kaufen. Josef war der Verhandlungsführer des Pharaos. Er erkannte seine Brüder sofort, während jene ihn nicht erkannten. Erst auf einer zweiten Verhandlungsreise gab Josef sich ihnen zu erkennen. Die Brüder erschraken sehr, da sie Josef tot wähnten und seine Rache fürchteten.

Doch als Josef seine Brüder nach all den Jahren wieder sah, vergab er ihnen trotz allem Unrecht und Leid, das er erlebt hatte. Er ließ seinen Vater Jakob und den jüngsten Bruder Benjamin nachholen und feierte mit allen ein großes Fest. Josefs Liebe war stärker als der Hass der Brüder, sein Großmut größer als ihr Verbrechen. Die Brüder waren verunsichert, überrascht von Josefs Gastfreundschaft und dankbar für seinen Großmut. Und auf einmal konnten sie Josef als denjenigen sehen, der er wirklich war: klug, feinfühlig, erfolgreich und anders als die anderen. Nicht mit Viehzucht hatte er Erfolg gehabt, sondern mit Zuhören, Traumdeutung und seiner Intuition. Er war nicht besser und nicht schlechter als die anderen, sondern anders. Vielleicht war er einfach sensibler. Vielleicht würde er sich heute als Transgender bezeichnen, vermutlich jede Kategorisierung ablehnen. Sicher ist, dass er die traumatische Situation von Verrat, Heimatverlust und Exil überlebt hatte. Im fremden Land konnte er sich eine neue Existenz aufbauen. Und die ganze Zeit hatte Josef den Gott seiner Väter nicht vergessen. Und Gott war bei ihm und beschützte ihn.

Der Dichter J. Mase III. bezog Josefs Geschichte auf sein eigenes Leben und interpretierte das Ende der biblischen Geschichte so:

"Joseph / Josephine / Jo,
deine Liebe hat die Dunkelheit der Vorbehalte durchbrochen.
Und zum ersten Mal hat dich deine Familie so gesehen, wie du bist, so wunderbar.
Denn du warst es, der die Menschen vor´m Hunger gerettet hat.

Lieber Joseph der Genesis, Josephine Jo,  
ich beanspruche deine Geschichte für jedes schwul-lesbische queere Kind,
dem erzählt wird, dass es unheilig sei, für jede schwul-lesbisch-queere Person, der erzählt wird:
wenn du leben willst, musst du deinen Glauben sterben lassen."
(Übersetzung, K.S.)

Josefs Geschichte ist ermutigend. Für alle, die sich mit denjenigen identifizieren, die am Rande stehen. Für Zurückhaltende, Schüchterne, Gefühlsbetonte, für solche, die sich anders fühlen, die nach sich selbst suchen, nach ihrer sexuellen Orientierung, nach ihrer Geschlechtsidentität. Ihnen allen zeigt die Geschichte: Brutale Gewalt hat nicht das letzte Wort! Es gibt bei Gott einen sicheren Ort für Josef, Josefine und für Jo. 

Interessanter Artikel zum Thema "Transsexualität in der Bibel" von Anne Kampf

 

 

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Wenn man beim Krippenspiel improvisieren muss, kann man bisweilen mit ganz elementaren Fragen konfrontiert werden...