Was würde den Menschen in einer Welt ohne Kirche fehlen, und welches Produkt könnte daraus entstehen? Das war die Frage, die mir von der Veranstaltung "IT.Menschlich" der ECKD KIGST besonders im Gedächtnis geblieben ist. Für die Tagung hatte sich die IT-Firma ein Format mit Vorträgen am ersten Tag und einer "Ideenschmiede" am zweiten Tag überlegt und dafür als Inspiration in den Räumen in Kassel einige Fragen aufgestellt.
Für die Ideenschmiede durfte und sollte jede*r Teilnehmende eine eigene Idee aufschreiben und an die Ideenwand kleben. Wie das ausgegangen ist, habe ich leider nicht miterlebt, weil ich nur am ersten Tag da sein konnte. Trotzdem ist mir diese eine Inspiration im Kopf hängen geblieben: "Wie sähe eine Welt ohne Kirche aus? Was würde den Menschen fehlen? Kann aus diesem Mangel eine digitale Produktidee entstehen?"
Die Idee hinter der Frage ist der Anfang des Design-Thinking-Prozesses: Zuerst überlegen, wer die Nutzerinnen sind, dann überlegen und erfragen, was sie brauchen könnten, und daraus Produktideen zum Test und Umsetzung finden.
Mir erschien die Grundannahme hinter der Frage allerdings als optimistisch. Würde überhaupt jemandem etwas fehlen, wenn es die Kirche nicht mehr gäbe? Vermutlich nur denen, die jetzt schon (oder noch) in der Kirche sind. Wer aus dem Traditionsabbruch zu Kirche und Glaube kommt, den Kirchen- und Jugendforscher seit Jahren konstatieren, dem fehlt auch ohne Kirche nichts – und auch nicht ohne Glaube. So lange es noch Menschen gibt, die Kirche sein wollen, gibt es aber auch die Kirche noch.
Die Frage impliziert außerdem, den angenommenen Mangel an Kirche mit einem digitalen Produkt ersetzen zu können. Das kann funktionieren, wenn es um Gemeinschaft, Orte der Zusammenkunft, Austauschbedürfnis geht. Aber was Kirche als Stimme in der Gesellschaft einzigartig macht, ist durch ein digitales Produkt schwer ersetzbar. "Wir glauben, dass sich diese Welt nicht aus eigener Kraft erlösen kann", hat der hessische Kirchenpräsident Volker Jung bei der Eröffnung von "IT.Menschlich" gesagt. Das heißt in seinen Worten, "es gibt nichts, was alle Probleme dieser Welt lösen kann".
Dieser Glaube an etwas, was außerhalb der menschlichen Macht und Machbarkeit steht, hätte keine Stimme mehr, wenn es "Kirche" als Gemeinschaft der Gläubigen nicht mehr gäbe. Die Institution Kirche lässt sich sicherlich in vielen Funktionen durch digitale Produkte und Services verbessern und ersetzen. Die Stimme, die sich dafür ausspricht, über den einzelnen Menschen hinaus zu denken, lässt sich auf digitalen Wegen verstärken und verbreiten.
Aber wenn es Kirche im Sinne der CA7 nicht mehr gäbe, wäre damit auch die Gemeinschaft der Menschen weg, die diese Überzeugung in die Gesellschaft tragen kann. Dann hilt auch kein Digitalprodukt mehr. Denn was digitale Produkte nicht können, ist: den glaubenden Menschen ersetzen.
Wer mehr Eindrücke von IT.Menschlich bekommen möchte, kann die Tweets zu #ITM19 nachlesen. Wer in ähnliche Richtungen weiterdenken möchte, kann am 14. & 15. März nach Münster kommen zur ökumenischen Tagung "Kirche im Web" mit Barcamp. Das Thema ist "Kirche als Marke", die Diskussion wird spannend!
Vielen Dank für's Lesen und Mitdenken!
Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.
P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!