Drei Knaller zum Jahresbeginn: Gutjahr, Google und Gemeinden

Drei Knaller zum Jahresbeginn: Gutjahr, Google und Gemeinden
Richard Gutjahr verlässt den Bayrischen Rundfunk, Google kann nicht mehr sagen, sie seien nicht böse, und Ralf Meister sieht Gemeinden auch in Social Media entstehen.

Das neue Jahr geht mit Knallern los. Nicht nur an Silvester, trotz Diskussion um das Böllerverbot, sondern auch im Internet.

Die erste Rakete hat Richard Gutjahr losgelassen, allerdings glühte deren Lunte schon seit Jahren. 22 Jahre arbeitete er beim Bayrischen Rundfunk. Im Juli 2016 wurde er zufällig Augenzeuge des Anschlags von Nizza und acht Tage später des Amoklaufs in München und berichtete als Journalist live von beiden Ereignissen. Seitdem sind er und seine Familie Ziel von absurden Verschwörungstheorien, Verleumdungen und Morddrohungen. Die Odyssee des Kampfs gegen diese Drohungen hatte Gutjahr schon einmal aufgeschrieben, nachzulesen unter anderem hier – es lohnt sich, das immer wieder zu lesen, um zu begreifen, dass Hass im Netz eine echte Bedrohung ist, psychisch wie physisch.

Nach 22 Jahren hat Richard Gutjahr seine Mitarbeit beim Bayrischen Rundfunk nun beendet und mit dem Ende schwere Vorwürfe gegen den BR-Intendanten Ulrich Wilhelm erhoben. Nachdem er sich schon zu Beginn der Bedrohungswelle an den Intendanten gewandt hatte, habe er vom Bayrischen Rundfunk nur eine minimale Unterstützung bei seinen Rechtsstreitigkeiten bekommen, schreibt Gutjahr: "Erst als ich mich in der Folge an den Ombudsmann sowie an den Rundfunkratsvorsitzenden des BR wandte, ließen Sie mir finanzielle Beihilfe zukommen, eine einmalige Zahlung, weniger als ein Monatsgehalt. Verbunden mit der unmissverständlichen Ansage, dass dies eine Ausnahme sei und ich mich in Zukunft mit meinen Problemen an den Deutschen Journalistenverband wenden soll."

In den Kontrollgremien des Bayrischen Rundfunks habe Wilhelm allerdings behauptet, der BR habe Gutjahrs Prozesskosten beglichen und er habe sich "mehrfach entschuldigt". Das ist so nie passiert, schreibt Gutjahr.

Mit dieser Gesamtlage sollte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk insgesamt noch mal beschäftigten. Denn die öffentlich-rechtlichen Sender sind in einer Situation, in der sie sich sowohl Anfeindungen aus der Politik vonseiten der AfD (und zunehmend auch der FDP) ausgesetzt sehen, und gleichzeitig immer wieder Ziel von rechten Desorientierungskampagnen werden, wenn denen ein Inhalt nicht passt.

Auch die Reaktion von WDR-Intendant Tom Buhrow auf die Proteste gegen das "Umweltsau"-Video des WDR zeigt, dass die Spitzen der Sender bessere, informiertere Reaktionen auf die Mechaniken der Stimmungsmache brauchen, um die Pressefreiheit zu schützen. Es geht in allen Medienhäusern darum, einen sicheren Raum gegen ein Klima der Angst zu setzen. Rechte Schreihälse dürfen es nicht schaffen, bei Journalisten den Gedanken zu säen: "Will ich etwas veröffentlichen, was diesen Leuten nicht passt und mich und meine Familie gefährdet, obwohl es stimmt?" Darüber müssen die Intendanten (und private Verleger übrigens auch) miteinander und mit Leuten wie Richard Gutjahr reden.

Google ist inzwischen böse

Der zweite Knaller kommt von Ross LaJeunesse. Er war von 2012 bis 2019 der "Head of International Relations" bei Google, so etwas wie der Chef-Diplomat und Menschenrechts-Beauftragte. Er kandidiert jetzt für den US-Senat im Bundesstaat Maine und hat in einem Blogeintrag beschrieben, warum Google seiner Meinung nach das alte Motto "Don‘t be evil" nicht mehr tragen kann. Unter anderem berichtet er, dass die Neuauflage einer Suchmaschine für China 2017 nicht mehr mit dem Menschenrechts-Team diskutiert wurde, obwohl Google sieben Jahre vorher beschlossen hatte, sich nicht auf die Vorgaben von Chinas Regierung einzulassen. Er erzählt auch von einem "Diversitäts-Training" bei Google, in dem einfach Stereotypen verstärkt wurden statt sie aufzulösen. Die Firma stelle nicht mehr die Verbesserung des Alltagsleben von Menschen, sondern einen höheren Aktienkurs in den Vordergrund, kritisiert LaJeunesse, und schafft es nicht mehr, bei den vielen Neueinstellungen die ursprüngliche Unternehmenskultur zu erhalten – insbesondere nachdem sich die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page zurückgezogen haben.

Am Ende fordert er, dass die Chefs von Google, Facebook, Amazon und Snap nicht nur ihren Aktionären verantwortlich sein sollten, sondern mehr staatliche Regulierung brauchen. Das ist natürlich ein Punkt für seinen Senatswahlkampf. Es ist trotzdem bemerkenswert – erstens, weil er ein hochrangiger Insider war, und zweitens, weil diese Forderung im kommenden US-Wahlkampf auch von Präsidentschaftskandidaten wie Elizabeth Warren gestellt wird. Der "techlash" ist auf höchster politischer Ebene angekommen.

Gemeinde geht auch auf Social Media

Zum Schluss des Jahresanfangs kommt der dritte Knaller von Ralf Meister, Landesbischof der hannoverschen Landeskirche. Er spricht in einem Interview auf der Homepage der Landeskirche über neue Gemeindeformen und sieht dabei nicht nur eine Chance für echte ökumenische Gemeinden. Er bringt auch Social-Media-Gemeinden ins Gespräch: "Im Bereich Socialmedia gibt es immer mehr hauptberufliche und ehrenamtliche kirchliche Mitarbeitende, die da aktiv sind und viele Menschen ansprechen. Da geschieht Verkündigung und Seelsorge – ist das nicht auch schon Gemeinde?"

Das ist eine Anerkennung dessen, wie vielfältig Gemeinde sein kann und darf. Die Frage schließt sich an, wie wir Menschen unterstützen, deren Online-Gemeinde 10.000 oder 100.000 Mitglieder hat – auch die brauchen ein Support-System. Sind Moderatoren für einen Live-Chat vergleichbar mit Online-Küstern?

2020 bringt spanndene Diskussionen aufs Tapet. Wenn das Jahr so weitergeht, wie es angefangen hat, wird es jedenfalls nicht langweilig!

Vielen Dank für's Lesen und Mitdenken!


Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.

P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass Digitalis auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel Confessio Digitalis natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!

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