Theologe Faix: Kirche muss lebendiger sein

Tobias Faix, Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel
epd-bild/Jens Schulze
Tobias Faix ist Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule Kassel. Für ihn müsse Kirche immer an der Seite der Menschen stehen, sagt er im Gespräch mit evangelisch.de.
Gegen den Mitgliederschwund
Theologe Faix: Kirche muss lebendiger sein
Tobias Faix ist evangelischer Theologe und Sachbuchautor. Er ist Rektor an der CVJM-Hochschule in Kassel und Professor für Praktische Theologie. Im Interview mit evangelisch.de zeichnet Faix Wege auf, wie Kirche Mitglieder gewinnen könnte.

evangelisch.de: Herr Faix, der Mitgliederverlust bei den Kirchen schreitet voran. Zwar ging die Zahl der Austritte 2024 zurück. Taufen und Eintritte wiegen die Zahl verstorbener Mitglieder oder der Menschen, die der Kirche den Rücken kehren, aber nicht auf. Warum nehmen die Mitgliederzahlen immer mehr ab?

Tobias Faix: Die Mitgliederzahlen der Kirche nehmen seit Jahren deutlich ab – und das aus einer Vielzahl von Gründen, die sich nicht auf ein einzelnes Motiv reduzieren lassen. Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenspiel gesellschaftlicher Entwicklungen wie der Säkularisierung mit strukturellen, persönlichen und theologischen Faktoren. Besonders häufig treten Menschen zwischen 20 und 35 Jahren aus der Kirche aus – oft dann, wenn sie zum ersten Mal Kirchensteuer zahlen und dies mit einem gefühlten Mangel an Gegenleistung verbinden (Kosten-Nutzen-Faktor).

Doch der finanzielle Aspekt ist nur ein Teil des Problems. Viel gravierender ist die wachsende Entfremdung zwischen Kirche und ihren Mitgliedern: Vielen erscheint die Kirche als bürokratisch, moralisch widersprüchlich oder nicht mehr zeitgemäß. Ihre Positionen in ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen – etwa zu Geschlechterrollen oder LGBTQ+ – wirken auf viele überholt oder unverständlich. Andere wiederum empfinden die Kirche umgekehrt als zu politisch oder zu theologisch liberal, was sie mit ihrem persönlichen Glaubensverständnis nicht vereinbaren können.

Hinzu kommen enttäuschende Erfahrungen in der Seelsorge, der Umgang mit sexualisierter Gewalt, eine mangelnde persönliche Ansprache und das Gefühl, dass die Kirche nicht wirklich präsent ist, wenn man sie braucht. Der Kirchenaustritt wird damit oft zu einem formalen Akt, der einen schon lange bestehenden inneren Bruch sichtbar macht – oder gar als befreiende Entscheidung erlebt.

Wie sollte sich die evangelische Kirche jetzt verhalten?

Faix: Angesichts dieser vielschichtigen Gründe sollte sich die evangelische Kirche nicht auf vereinfachende Erklärungen und Antworten zurückziehen, sondern sich ehrlich und lernbereit der Realität stellen. Eine strategische Reaktion muss mit einer Haltung des Zuhörens beginnen: Wo Menschen über einen Austritt nachdenken oder bereits ausgetreten sind, darf die Kirche nicht schweigen, sondern muss den Kontakt suchen – nicht belehrend, sondern dialogisch.

"Die Zukunft der Kirche liegt nicht in der Bewahrung alter Formen, sondern in der Entwicklung neuer Ausdrucksformen gelebten Glaubens – in Sprache, Haltung und Praxis."

Alle Landeskirchen befinden sich derzeit in Reformprozessen, die Kirche in Beziehung und Beteiligung vor Strukturen und Programme stellen sollten. Gerade junge Menschen wünschen sich keine fertigen Antworten, sondern Räume, in denen sie ihre Fragen ehrlich stellen und mitgestalten dürfen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Machtstrukturen zu hinterfragen, Sprache zu überarbeiten, transparent mit Finanzen umzugehen und die moralische Integrität kirchlicher Vertreter*innen konsequent zu leben. Der finanzielle Druck steigt – und gleichzeitig ist allen klar: Die Zukunft der Kirche liegt nicht in der Bewahrung alter Formen, sondern in der Entwicklung neuer Ausdrucksformen gelebten Glaubens – in Sprache, Haltung und Praxis. Dafür braucht es Mut, bestehende kirchliche Formate und Strukturen zu hinterfragen und Kirche postparochial zu denken. Neue kirchliche Formen sind nötig, die auf gesellschaftliche Entwicklungen wie Pluralisierung, Mobilität und Fragmentierung reagieren und vielfältige Formen von Zugehörigkeit schaffen.

Vieles davon wird bereits in Erprobungsräumen, Mut-Projekten oder Fresh X sichtbar. Allerdings geraten diese durch Doppelstrukturen, Ressourcen-Konkurrenz und fehlende Integration ins Gesamtsystem an ihre Grenzen. Die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen verhindern häufig eine vollwertige Anerkennung und Integration dieser Räume. Dabei könnte das Kirchenrecht als Ermöglichungsrecht verstanden werden: als Rahmen, der Innovation absichert, Beteiligung stärkt und strukturelle Wandlungsprozesse begleitet – und somit Innovationen nicht nur duldet, sondern in die Grundstruktur der Kirche integriert.

Die Zukunft liegt nicht in einem Entweder-oder, sondern in einem Miteinander bewährter und neuer kirchlicher Formen, getragen von einem Geist der Offenheit, Beteiligung und geistlichen Erneuerung.

Welche Themen speziell sollte die Kirche jetzt ansprechen, damit es wieder zu Kircheneintritten kommt?

Faix: Um wieder Kircheneintritte zu ermöglichen – oder überhaupt Interesse an Kirche zu wecken –, muss die evangelische Kirche Themen ansprechen, die Menschen heute wirklich berühren: Wie finde ich Sinn in einer komplexen Welt? Was trägt mich in Krisen? Wie kann ich mich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung engagieren, ohne mich selbst zu verlieren? Eine Spiritualität, die sich mit dem Alltagsleben verbindet – durch Rituale, Kontemplation, Gemeinschaft – kann hier neue Wege eröffnen. Menschen suchen heute nach Resonanz, nach echter Beziehung, nach Räumen der Stille und Tiefe – und die Kirche hat das Potenzial, solche Räume zu gestalten.

"Kirche kann wieder interessant werden, wenn sie sich nicht länger vorrangig als Institution mit festen Strukturen versteht, sondern als lebendiger, lernfähiger Organismus, der auf die konkreten Kontexte und Lebensrealitäten der Menschen reagiert."

Kirchliche Orte müssen sich vielfältig im Sozialraum zeigen. Kirche kann wieder interessant werden, wenn sie sich nicht länger vorrangig als Institution mit festen Strukturen versteht, sondern als lebendiger, lernfähiger Organismus, der auf die konkreten Kontexte und Lebensrealitäten der Menschen reagiert. Eine solche Kirche ist transparent, glaubwürdig und offen – sie steht nicht über dem Menschen, sondern an seiner Seite. Sie erkennt ihre eigene Geschichte an, lernt aus ihr und bringt die versöhnende Botschaft des Evangeliums in eine verständliche und lebensnahe Verbindung mit den Bedürfnissen der Gegenwart.

Interessant wird Kirche dann, wenn sie Relevanz und Nähe gleichermaßen vermittelt: durch Seelsorge, Diakonie, Gemeinschaft, spirituelle Tiefe und durch kreative, vielfältige Formen gelebten Glaubens. Sie öffnet Räume, in denen Menschen sich begegnen und mitgestalten können – sodass der Glaube nicht nur verkündet, sondern gemeinsam erlebt und geteilt wird. Kirche wird dann wieder attraktiv, wenn sie echte Teilhabe ermöglicht: wenn Ehrenamtliche und Hauptamtliche auf Augenhöhe kooperieren, wenn Macht kritisch reflektiert und Vertrauen durch Offenheit gestärkt wird.