Wie ein gestrandeter weißer Wal liegt die "Global Mercy" im Hafen von Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone. Sie ist das größte Schiff weit und breit, größer als die Containerschiffe, die im Hafen liegen und in bunten Containern Waren aus aller Welt in das kleine Land an der westafrikanischen Küste bringen. Die Global Mercy ist nicht irgendein Schiff, sie ist das größte zivile Krankenhausschiff.
Bevor man über die schmale Treppe das Schiff und damit eine ganz eigene Welt betritt, muss man durch eine strenge Sicherheitsschleuse. Der Pass wird gegen einen Schiffsausweis getauscht. Maxson Cobba durchquert die Sicherheitsschleuse jeden Tag. Er ist einer der Mitarbeiter:innen aus Sierra Leone, die in Freetown leben und jeden Tag zur Arbeit aufs Schiff kommen. Viele von ihnen übersetzen zwischen dem ehrenamtlichen medizinischen Personal aus dem Ausland und den Patient:innen. Der 25-Jährige aber hat einen anderen Job. Er wurde als medizinischer Fotograf angeheuert, in seinem kleinen Fotostudio mit Studiolichtern und Spiegelreflexkamera ausgerüstet, dokumentiert er die medizinischen Phänomene vor und nach der Operation. "Das hier ist Europa in Afrika", sagt Cobba.
Zwischen 400 und 600 Menschen leben und arbeiten auf dem größten zivilen Krankenhausschiff der Welt, das umsonst Patienten operiert, deren Behandlung im lokalen Gesundheitssystem entweder nicht möglich – oder unerschwinglich - ist. Ein schwimmendes Dorf. Und wie in vielen kleinen Orten auch, gibt es einen Laden, eine Schule, eine Bücherei, ein Fitnessstudio, eine Kirche und ein Restaurant, das hier vielmehr eine Cafeteria ist. Sogar ein Postbüro gibt es, doch das hat nur geöffnet, wenn gerade ein Container mit Post angekommen ist. Die internationalen Freiwilligen leben umsonst auf dem Schiff, bekommen aber kein Geld für ihren Einsatz. Die lokalen Mitarbeiter bekommen am Tag 225 Leones, umgerechnet etwa neun Euro.
Mareike Spilker zählt Tabletten ab, richtet Spritzen, füllt Patientenakten aus. Im Schwesternzimmer sieht es aus wie in jedem Krankenhaus in Deutschland, doch der Blick aufs offene Meer ohne irgendwas dazwischen erinnert die Krankenschwester aus dem niedersächsischen Bad Eilsen immer wieder daran, wo sie gerade arbeitet. Schon lange engagiert sie sich ehrenamtlich, erzählt die Intensivkrankenschwester. Und doch hat sie immer nach etwas gesucht, wo sie sich mit ihrem Wissen einbringen kann. Jetzt ist sie schon zum dritten Mal im Einsatz auf der "Global Mercy", auf der knapp 200 Patienten gleichzeitig versorgt werden.
Die Gesundheitsversorgung ist in vielen afrikanischen Ländern unterfinanziert. Öffentlichen Krankenhäusern fehlt es oft an Ausstattung. Private Krankenhäuser können oft komplizierte Operationen durchführen, sind aber für die Durchschnittsbürgerin unerschwinglich. Eine Behandlung würde das mehrfache eines Jahreseinkommens kosten – und deswegen werden zum Beispiel Tumore oft gar nicht behandelt.
Die Station, auf der Spilker in den sechs Wochen meist im Einsatz ist, kümmert sich auf Deck 4 um genau solche Fälle von Tumoren im Kopf und Gesichtsbereich. Auch unbehandelte Gaumenspalten sind verbreitet. Wenn Menschen nach der Operation zum ersten Mal in den Spiegel schauen, diese Momente seien ganz besonders, findet Spilker. Der Sinn in der Arbeit sei ihr hier besonders deutlich. "Das macht mich fröhlich und glücklich."
Maxson Cobba fotografiert die Patienten vor- und nach der Behandlung – manche der Fotos hängen auf den Gängen. Er hat vor vielen Jahren schon von seinem Gemeindepfarrer in Freetown von Mercy Ships gehört, als das andere Krankenhausschiff "Africa Mercy" in Freetown ankerte. Aktuell ist das zweite Schiff in Madagaskar. Cobba hat Erwachsenenbildung und "Community Development" (Gemeindeentwicklung) studiert. Doch einen festen Job zu finden ist schwer für die vielen jungen Menschen in Sierra Leone, die jedes Jahr ihren Uniabschluss machen.
Patienten das Christentum näher bringen
Im Eingangsbereich steht in großen Lettern: "Bringing hope and healing to the forgotten poor, following the 2.000 year old model of Jesus". Man setzt hier die Arbeit fort, die Jesus vor 2.000 Jahren begonnen hat. Wer länger als ein paar Wochen auf dem Schiff mitarbeiten will, muss bekennend christlich sein und den Missionsgedanken unterstützen, mit dem die Organisation "Mercy Ships" 1978 von amerikanischen Missionaren in der Schweiz gegründet wurde.
Die Verquickung von Mission und Hilfe hat auf dem afrikanischen Kontinent eine lange, oft auch schwierige Geschichte. Als Missionare aus Ländern wie Portugal, England und Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts anfingen, auf dem afrikanischen Kontinent Kirchen, Schulen und Krankenstationen zu bauen, war das Bekenntnis zur neuen Religion, zum Christentum, die Voraussetzung für den Schulbesuch – und auch für die Behandlung im Krankenzentrum. Das ist hier anders – aber den Patienten das Christentum näher bringen, ist auch eines der Ziele der Organisation.
Im Veranstaltungssaal auf Deck 7 wird gefeiert. Männer und Frauen tanzen, manche in schicken Kleidern, andere in ihrer Krankenpflege-Kluft. Mittendrin ein Chirurg und seine Patient:innen mit Sonnenbrillen. Sie feiern mit einem Gottesdienst, dass die Augen-Operationen erfolgreich waren. Auch mehrere Frauen mit Kopftuch sind dabei. In Sierra Leone sind 70 Prozent der Menschen Muslime, das religiöse Miteinander ist von Toleranz geprägt.
Sie singen zusammen mit der Band "Tell Papa God tenki, wetin i do for we, a go tellam tenki" – "Danke Gott, was du für uns getan hast." Dann erzählt eine Frau mit viel Pathos die Geschichte vom blinden Bartimäus, der von Jesus geheilt wird. Sie erzählt lebendig in Krio, der Umgangssprache in Sierra Leone, dass Bartimäus von Jesus geheilt wurde, weil er an ihn glaubte. Danach wird gefragt: Will jemand Zeugnis ablegen? Eine der Patientinnen erzählt, wie sie dafür gekämpft habe, auf die Liste der Patienten aufgenommen zu werden. Ein anderer erzählt, dass sein Glaube ihn geheilt habe, nachdem traditionelle Medizin ihn nicht weitergebracht habe. Dass ihnen geholfen wurde, wird hier vor allem Gott zugeschrieben. Als ein Wunder wird es dargestellt.
Geld- und Sachspenden im Wert von 200 Millionen
Nachdem lange mit ausrangierten, umgebauten Schiffen gearbeitet wurde, ist die Global Mercy das erste Schiff, dass die Organisation selbst als Krankenhaus entworfen hat – und dann hat bauen lassen. Ein jahrelanger Prozess. 2022 begann das Schiff seine Reise im Senegal. 10 Stockwerke, Decks genannt, hat das Schiff. 147 Meter ist es lang, 37 Tonnen schwer. Finanziert wird die Arbeit nach Angaben der Organisation von Spenden – von Einzelpersonen, Kirchengemeinden, Stiftungen und Firmen. Millionen Euro Spendengelder erhält die Organisation durch PR-Kampagnen und Werbung jedes Jahr. Nicht nur Geld wird gespendet – auch Technik, medizinische Versorgungsmittel und Vorräte.
Auf den Gängen hängen Fotos von der aktuellen Crew – und auch noch von denen, die auf dem Schiff im Einsatz waren, seit es in Sierra Leone geankert hat. Aus Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, UK, den USA - aus Dutzenden Nationen gab es bereits Freiwillige. Weil das Schiff unter maltesischer Flagge fährt, ist es schwierig, Freiwillige aus anderen afrikanischen Ländern anzuheuern, da Visa zum Problem werden, wenn das Schiff zum jährlichen Reparatur- und Auffüll-Stopp in Europa ankert. Auch die Freiwilligen zahlen einen monatlichen Grundbetrag für die Zeit, in der sie auf dem Schiff leben, viele finanzieren ihren Aufenthalt über Spenden aus Kirchengemeinden. Insgesamt bekam die Organisation zum Beispiel 2023 Geld- und Sachspenden im Wert von 200 Millionen Euro. Nach Angaben der Weltbank lag das Budget für das gesamte staatliche Gesundheitssystem in Sierra Leone 2021 bei rund 600 Millionen Euro im Jahr.
"Krankenhaus kann auch ein fröhlicher Ort sein", sagt die Kinderkrankenschwester Katrin Fiege aus Hannover, die schon zum fünften Mal im Einsatz ist. Diese Einstellung nimmt sie auch wieder mit zurück in ihre Arbeit in Deutschland. Ihr erster Einsatz dauerte zwei Jahre, seitdem kommt sie fast jedes Jahr für ein paar Monate, in denen sie unbezahlten Urlaub nimmt. Auf ihrer Station sind vor allem Kinder, die O- oder X-Beine haben, die durch Operationen korrigiert werden. Heute hat sie ihren freien Tag und schlendert über das Schiff. Am Wochenende macht sie manchmal gemeinsam mit anderen Freiwilligen Ausflüge auf den Markt in der Stadt oder an den Strand.
Für ihre Kollegin Mareike Spilker sind diese Ausflüge auch ein wichtiger Punkt, damit einem beim Leben auf dem Schiff die Decke nicht auf den Kopf fällt. Spaß machen ihr aber auch die Trainings, wenn zum Beispiel Krankenschwestern aus dem Connaught Krankenhaus in Freetown zu Besuch kommen und Weiterbildungen erhalten, erzählt sie. Auch für Chirurgen gibt es ein Trainingsprogramm. Damit auch etwas bleibt, wenn die Freiwilligen irgendwann das Schiff und das Land wieder verlassen.