Annemarie Streit steigt aus dem Auto und geht auf den Rollator gestützt die letzten Schritte zum Kontaktladen "Mecki" in Hannover. Der Treffpunkt für Wohnungslose ist am Morgen schon gut frequentiert, als die 97-Jährige eintritt. Gemeinsam mit ihren Unterstützern Ute und Bernd Winkler, die sie abgeholt haben, pflegt sie so etwas wie ein Ritual. Die alte Dame ist elegant gekleidet an diesem Tag, die Haare sind frisch gestylt. "Alle drei Wochen geht es zum Friseur, zum 'Mecki' und zum Wocheneinkauf bei Aldi", sagt sie.
Im November ist Annemarie Streit mit dem "Niedersachsenpreis für Bürgerengagement" ausgezeichnet worden. Nur wenige dürften in ihrem Ehrenamt einen so langen Atem haben wie sie. Seit mehr als 40 Jahren setzt sich die Hannoveranerin für wohnungslose Menschen ein. "Das ist hervorragend", sagt Sozialarbeiterin Veronika Horn, die selbst schon mehr als 30 Jahre in dem diakonischen Treffpunkt "Mecki" arbeitet.
"Ohne Menschen wie sie wäre unser Angebot so nicht möglich", fügt sie an. Dann legt sie Schokoriegel, Äpfel und gekochte Eier, auf den Tresen, einen Teil der Lebensmittel, die Annemarie Streit und die Winklers mitgebracht haben und die das Angebot für die Gäste an diesem Tag bereichern. Immer haben die drei Besucher auch Hygieneartikel wie Papiertaschentücher und Seife dabei. Mit einer Tasche für seine Gitarre, die sich ein Gast im "Mecki" wünscht, können sie aber diesmal nicht dienen.
"Die kann ich schlecht stricken", sagt Ute Winkler und lacht. Sie unterstützt Annemarie Streit auch bei der Handarbeit. Denn die 97-Jährige strickt ebenfalls noch regelmäßig die Handschuhe und Mützen, die sie vor allem im Winter immer mitbringen. "Selbstgestricktes hält länger und ist wärmer", ist Streit überzeugt. An diesem Tag hat sie kaum Platz genommen, da kommt ein alter Bekannter auf sie zu. Der ältere Mann mit Bart umfasst ihre Hände. "Schön, Sie hier zu sehen!"
"Ich habe mich immer zu den Leuten auf die Bank gesetzt und mit ihnen geredet"
Beide kommen ins Philosophieren, darüber, wie viel schneller die Zeit im Alter verfliegt und sie sagt: "Noch bin ich ja vorhanden." Annemarie Streit ist es wichtig, die Spenden persönlich vorbeizubringen, obwohl sie immer weniger der Besucher im "Mecki" kennt. "Vieles hat sich verändert", sagt sie. "Es kommen immer mehr, die kein Deutsch sprechen."
In jüngeren Jahren ist sie gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenen Bruder Gerhard viele Jahre lang regelmäßig in den Straßen Hannovers unterwegs gewesen. "Ich habe mich immer zu den Leuten auf die Bank gesetzt und mit ihnen geredet", sagt sie. "Das ist die Hauptsache." So erfuhren sie, was die Menschen wirklich benötigten - von der Hundeleine über die Unterhose bis zum Vogelkäfig. "Ich organisiere sehr gerne", sagt Streit. "Das habe ich von meiner Mutter."
"Die haben ja sonst oft keine Lobby."
Warum sie all dies tut, kann Annemarie Streit selbst nicht erklären. Seit mehr als 90 Jahren lebt sie in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist und das voll von Erinnerungen an die Eltern und Geschwister ist. "Ich habe alles, was ich brauche." Doch auch Entbehrungen habe sie kennengelernt - als sie und die Geschwister mit der Mutter vor den Weltkriegsbomben aus Hannover fliehen mussten. Weil der Vater nach dem Krieg noch viereinhalb Jahre in Gefangenschaft war, ging sie arbeiten statt zu studieren: als Schwesternschülerin, als Zahnarzt-Helferin, schließlich die meiste Zeit bei einer Versicherung.
Sie kann viele Geschichten von ihren Begegnungen mit Wohnungslosen erzählen. Bei drei Hochzeiten, bei denen sich Verkäuferinnen und Verkäufer des Straßenmagazins "Asphalt" das Ja-Wort gaben, war sie Trauzeugin. Bis heute widerspricht die 97-Jährige laut, wenn jemand sich abfällig über wohnungslose Menschen äußert. "Die haben ja sonst oft keine Lobby."
In Hannover engagieren sich rund 100 Menschen freiwillig in der Wohnungslosenhilfe der Diakonie. Noch mehr sind es, wenn man andere Träger hinzurechnet wie den hauptsächlich aus Ehrenamtlichen bestehenden Verein "Obdachlosenhilfe Hannover" oder die Caritas. "Teile unseres Angebots können in dem Umfang ohne ehrenamtliches Engagement nicht geleistet werden", sagt Anne Wolters vom Diakonischen Werk.
Doch wichtiger noch sei eine andere Dimension: "Die Betroffenen erfahren durch das ehrenamtliche Engagement häufig mehr Akzeptanz und Wertschätzung." Annemarie Streit duzt die Menschen nicht, die sie in ihrem Engagement kennengelernt hat. Doch sie nennt manche beim Vornamen, immer wieder fallen welche, wenn sie erzählt. Bei ihrem Besuch im "Mecki" verabschiedet sich ihr alter Bekannter, in dem er ihr "Gottes Segen" wünscht. Annemarie Streit will mit ihrem Engagement noch längst nicht aufhören: "Bis ich tot umfalle, wird es wohl so weitergehen."