Mit Blick auf den Bundestagswahlkampf kritisiert der Konfliktforscher Andreas Zick populistische Forderungen zum Thema Migration. Selbst etablierte Parteien würden "auf der Welle der Rechten" schwimmen, sagte er in einem Interview in dem am 28. Januar erscheinenden Buch "Verstehen Sie Staat?! Wie Sie Nachrichten einordnen, politische Debatten begreifen und sich eine eigene Meinung bilden".
Für eine gelingende Integration müssten Menschen, die nach Deutschland kommen, früher angesprochen und besser unterstützt werden.
Studien zeigten, wie sehr das Zusammenleben von Menschen mit Migrationsgeschichte als konfliktreich wahrgenommen werde, selbst wenn es gut laufe und alle von Migration profitierten, erklärte der Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Es gebe "massive Integrationserfolge". Ein Drittel der Bundesrepublik sei migrantisch. Es habe eine enorme Entwicklung bei der Integrationsfähigkeit und der Qualität der Integrationsangebote gegeben. "Wir sind divers geworden, es gibt diese Normalität", sagte Zick.
Zick plädierte für eine Bundesbeauftragte oder einen Bundesbeauftragten für diesen Bereich. Es gebe zwar ein Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Für den gesellschaftspolitischen Bereich fehle jedoch ein Migrationsministerium, das Modelle entwickle, Belastungen und Kapazitäten ermittle und politische Prozesse steuere.
Nach Zicks Worten fehlt ein "Zukunftsmodell von Migration". Die Verwaltung sei nicht auf längerfristige Migration und die damit verbundenen Teilhabeprozesse wie auch das Konfliktmanagement ausgerichtet. Das überlaste immer wieder Kreise und Kommunen, wenn es zu Verteilungskonflikten komme. Es sei jetzt "immerhin mal angekommen", dass man die Leute früher in Arbeit bringen müsse.
Verzerrte Wahrnehmung
Die Bürger würden Einzelfälle extremistischen Terrors auf die Gesamtheit des Migrationsgeschehens verallgemeinern, sagte Zick. So habe das Solinger Attentat im August 2024 gezeigt, dass ein Fall von extremistischem Terror schnell zu einer generellen Debatte über illegale Migration und Migranten geworden sei. "Wenn dann Politik nicht differenziert, verstärkt sich eine vorurteilsgeladene Debatte, die sich von konkreten Lösungsvorschlägen entfernt."
Die behördlich geschätzte Mindestzahl von "irregulärer" Migration liege bei 56.000 Personen, die 2022 in Deutschland lebten, erklärte Zick. Die Dunkelziffer werde zwar höher eingeschätzt. Insgesamt sei die Zahl jedoch viel geringer, als viele angesichts der Prominenz des Themas im Wahlkampf denken.
Um eine Rekrutierung von jungen Geflüchteten durch islamistische Terrorgruppen zu verhindern, ist laut Zick mehr Prävention nötig. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" habe bewusst dazu aufgerufen, unter Geflüchteten zu suchen, insbesondere über Online-Netzwerke. Unter den Geflüchteten gebe es anfällige Menschen, die mit großen Hoffnungen kommen, dann aber lange in den Unterkünften sitzen würden. "Eigentlich verfügen wir über die notwendigen Instrumente, um in die Unterkünfte zu gehen und Menschen ausfindig zu machen, die sehr belastet sind und im Netz vielleicht an den falschen Stellen suchen", sagte der Forscher. Gerade diese soziale, psychologische Krisenarbeit werde jedoch gerade heruntergefahren, kritisierte Zick.
"Die ethnisch-kulturellen und rassistischen Vorurteile steigen gerade wieder an, und Parteien gewinnen Wahlen, wenn sie das Thema Migration kurz vorher auf die Agenda setzen", sagte Zick. Es dürfe nicht Populisten überlassen werden, Migration zu skandalisieren.
In dem Buch "Verstehen Sie Staat?! Wie Sie Nachrichten einordnen, politische Debatten begreifen und sich eine eigene Meinung bilden" beleuchten die Autorinnen Jule Gölsdorf und Christine Langner 14 Themengebiete wie Demokratie und Populismus, Migration, Wirtschaft, Haushalt, Klimawandel, Meinungsfreiheit und Journalismus, Bildung, Bundeswehr und Gleichberechtigung. Ergänzt werden die Beiträge durch Interviews mit Experten aus den verschiedenen Bereichen.