Lea-Sophie steht in den Räumen der Jugendberufshilfe "Juniver" in Hannover vor einer großen weißen Tafel und zögert. "Tagesstruktur" hat Pädagogin Aristi Dimou in großen Lettern auf das Whiteboard geschrieben. Lea-Sophie, die in Wirklichkeit anders heißt, ergänzt: pünktlich aufstehen, Hygiene, frühstücken. Und dann? Sie überlegt: "Tasche packen" schreibt die 23-Jährige. "Genau", sagt Dimou, "und noch einmal prüfen, ob Du alles dabei hast, was Du für den Tag benötigst".
"Juniver" ist ein Projekt der Diakonie Hannover, unterstützt vom Job-Center der Agentur für Arbeit und der Stadt Hannover. Sozialarbeiter und Pädagogen kümmern sich um junge Menschen bis 24, die, wie Leiter Peter Ahlers sagt, "gestrauchelt sind".
Sie haben keinen Schulabschluss oder trotz Abschluss den Übergang ins Berufsleben nicht geschafft. "Der Bedarf wird immer größer", sagt Ahlers. Das bestätigt auch das Statistische Bundesamt. Lag die Quote der sogenannten "frühen Schulabgänger" in Deutschland 2013 bei 9,8 Prozent, so stieg sie 2023 auf 12,8 Prozent. "Frühe Schulabgänger" sind 18- bis 24-Jährige, die maximal einen Sekundarstufe-I-Abschluss haben und "gegenwärtig keine allgemeine oder berufliche Bildung erfahren". Zum Vergleich: In den Niederlanden, Luxemburg oder Belgien betrug die Bildungsabbrecherquote 2023 rund sechs Prozent, in Kroatien, Polen oder Griechenland sogar nur zwischen rund zwei bis vier Prozent.
In Deutschland verfügen in der Altersgruppe unter 35 Jahren laut dem Berufsbildungsbericht 2024 des Bundesbildungsministeriums 19,1 Prozent über keinen Berufsabschluss. Das sind fast 2,9 Millionen junge Menschen. Die Gründe dafür sind laut Ahlers vielfältig: instabile Familienverhältnisse, psychische Erkrankungen, Sucht, Mobbing, Gewalt. "Ein Abwärtsstrudel", sagt er. Das Team von "Juniver" bietet Orientierung, Stabilisierung sowie Erfolgserlebnisse durch erste berufliche Qualifikationen in Gastronomie, Handwerk und Handel. Ziel: Die Jugendlichen in ein Praktikum vermitteln, eine Lehre, einen Job.
Lea-Sophie nimmt an einem Schulungsangebot für Menschen mit psychischen Problemen teil. Die junge Frau mit dem trotzig-traurigen Gesicht und der Mütze mit den Teufelshörnern hat 2018 ihren Hauptschulabschluss gemacht und danach Misserfolge, Frustrationen, Ausgrenzung erlebt, wie sie berichtet. In der Hauswirtschaftsschule sei sie mit ihren Klassenkameraden nicht klargekommen, sagt sie. Es folgte eine Berufsschule für Holzverarbeitung. Aber auch hier fand sie keinen Anschluss. "Ich war einsam und genervt." Zu Hause lief es ebenfalls nicht gut. "Es gab viel Druck, ich hatte keine Kraft mehr, zum Glück habe ich inzwischen eine eigene Wohnung."
Kindheit als Kümmerer
Drei Stunden am Tag kommt Lea-Sophie zu "Juniver": "Damit ich nicht nur Zuhause sitze". Dimou kennt ihre Traurigkeit und Wut. "Wir geben hier Zeit", sagt sie, "wir machen winzige Schritte, aber auch die verändern die Richtung." Dimou schildert, oft hätten die Eltern selbst keinen Job, seien depressiv, alkoholkrank, Tagesstruktur fehle. Für die Kinder bedeute das eine Rollenumkehr. Statt Geborgenheit zu erfahren, müssten sie sich um Geschwister und Eltern kümmern. "Netflix und Videospiele bis in die Nacht, keine Kontrolle, keine Grenzen - und morgens kommen sie nicht aus dem Bett."
Das Problem steigender Bildungsabbrecherquoten ist in Industrie und Wirtschaft hinlänglich bekannt. Jeder Schulabbrecher sei eine fehlende Fachkraft von morgen, sagt Sönke Feldhusen, Sprecher für berufliche Bildung bei der Industrie- und Handelskammer Niedersachsen. "Die Ausbildungsreife wird von Unternehmen schon lange als unzureichend bewertet." Die Verantwortung sieht Feldhusen in der Bildungspolitik. Sie müsse dafür sorgen, dass Kita- und Ganztagsbetreuung sowie frühkindliche Bildung und Sprachstandsfeststellungen vor der Einschulung ausgebaut werden.
Im August brachte der Bund mit dem "Startchancenprogramm" nach eigenen Angaben das größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg. Mit einem Investitionsvolumen von 20 Milliarden Euro sollen über zehn Jahre rund 4.000 Brennpunktschulen gefördert werden. Menschen mit Bildungsabbrüchen unterstützt das Bundesprojekt "Assistierte Ausbildung" der Agentur für Arbeit. Betriebe erhalten Hilfe von Ausbildungsbegleitern, wenn sich abzeichnet, dass Azubis etwa wegen schlechter Noten, sozialer Probleme oder Prüfungsangst ihre Lehre nicht fortsetzen können.
Auch das vom Bundesbildungsministerium geförderte Coaching-Programm "VerA" zur Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen kann Hilfe bieten. Dessen "Senior Experten Service" bietet eine Eins-zu-eins-Begleitung von Azubis durch Fach- und Führungskräfte im Ruhestand. 80 Prozent der Begleitungen sind nach Angaben der Initiative erfolgreich. "Ein schlechter oder fehlender Schulabschluss muss keine Sackgasse sein", betont die IHK Niedersachsen. Lea-Sophie und den anderen jungen Leuten bei "Juniver" dürfte diese Feststellung ebenso Mut machen wie die des Sozialpädagogen Ahlers. Er attestiert den Jugendlichen Leistungsbereitschaft: "Wenn sie Lob und positives Feedback bekommen, wenn sie sich selbstwirksam erleben, dann kann man zusehen, wie sie sich aufrichten."