TV-Tipp: "Bis zur Wahrheit"

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20. November, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Bis zur Wahrheit"
Lena Fakler (Buch) und Saralisa Volm (Regie) beschreiben in ihrem Film bedrückend realistisch, welche seelischen Folgen eine Vergewaltigung hat.

Die Vernehmung nimmt vorweg, was auf Martina zukommen wird. Eine Frau zählt kühl und ungerührt die Fakten auf: Es wurde getrunken und gekifft, es gibt keine brauchbaren Beweise, also steht Aussage gegen Aussage. Später offenbart der Film, wer hier so wenig Empathie zeigt: Es handelt sich um Martinas Anwältin, die in die Rolle der Gegenseite geschlüpft ist.

"Bis zur Wahrheit" ist jedoch kein juristisches Drama: Lena Fakler (Buch) und Saralisa Volm (Regie) beschreiben in ihrem Film bedrückend realistisch, welche seelischen Folgen eine Vergewaltigung hat. Zwei Aspekte sorgen dafür, dass Martinas Absturz noch drastischer wirkt: Die Ärztin ist als Neurochirurgin eine Koryphäe auf ihrem Gebiet und wird zudem von Maria Furtwängler verkörpert, die ohnehin stets starke Frauen spielt. Martina will das traumatische Erlebnis so schnell wie möglich hinter sich lassen und nicht wahrhaben, dass sie komplett aus der Bahn geworfen worden ist.

Faklers erstes verfilmtes Drehbuch war "Am Ende der Worte" (2022 im Rahmen der NDR-Debütreihe "Nordlichter" ausgestrahlt), ein fast dokumentarisch gestaltetes Porträt einer jungen Polizistin, die nach ihrer Ausbildung mit der rauen Realität konfrontiert wird. Ganz ähnlich ist der Ansatz bei "Bis zur Wahrheit", zumal es die Autorin ihrer Heldin in vielerlei Hinsicht schwer macht: Martinas Selbstbild lässt keine Schwäche zu, weshalb sie viel Kraft aufwendet, um die Fassade zu wahren; das kann auf Dauer nicht gut gehen. Eine ungleich größere Herausforderung sind jedoch die Begleitumstände, wie der Film nach dem Befragungsprolog in langer Rückblende offenbart.

Die Vergewaltigung hat sich im Rahmen eines gemeinsamen Ostsee-Kurzurlaubs zweier befreundeter Familien ereignet. Der Täter ist der Sohn von Jutta und Torsten (Margarita Broich, Uwe Preuß): Während die anderen unterwegs sind,  besuchen Martina und Mischa (Damian Hardung) eine Party am Strand. Martina flirtet mit ihm, sie will ihm im Pool des Ferienhauses das Kraulen beibringen, dann küssen sie sich. Jetzt endlich schaltet sich bei ihr die Stimme der Vernunft ein. Sie will den jungen Mann von sich drücken und sagt Nein, aber er macht einfach weiter: "Du willst es doch auch". Den Satz hat Fakler so ähnlich als Arbeitstitel übernommen: "Du wolltest es auch".

Die große Stärke des Drehbuchs ist seine Differenziertheit. Mischa ist kein Monster, sondern ein attraktiver junger Mann mit Fitnesskörper. Er sieht in Martina eine Seelenverwandte, weil ihn die doppelt so alte beste Freundin seiner Mutter im Gegensatz zu den eigenen Eltern ernst nimmt. Martina wiederum ist eine selbstbewusste, erfolgreiche Frau, die regelmäßig Sport treibt. Ihre Selbstbestimmtheit lässt sie stellenweise sogar unsympathisch wirken: Als Ehemann Andi (Pasquale Aleardi), dem nicht verborgen bleibt, dass irgendwas passiert ist, seine Hilfe anbietet, reagiert sie kühl und verletzend, und als Vorgesetzte in der Klinik hätte sie bei der Wahl zur "Chefin des Jahres" ziemlich schlechte Aussichten. 

Weil Martina wiederholt übermüdet, verspätet und mit Alkoholfahne zur Arbeit kommt, wird diese Basis ihrer inneren Stabilität ebenfalls erschüttert. Marschierte sie vorher hoch erhobenen Hauptes durch die Klinikflure, so wirkt sie nun wie ein Mensch ohne Körperspannung. Natürlich bleibt die Freundschaftsebene gleichfalls nicht unberührt, und auch in dieser Hinsicht folgt der Film seinem realitätsnahen Ansatz: Jutta glaubt ihrem Sohn, nicht ihrer Freundin. Wäre Mischa ein Vergewaltiger, würde dies ihre gesamte Erziehung in frage stellen; also legt sie ihm die Antworten quasi in den Mund, als sie ihn zur Rede stellt. Torsten droht Martina gar mit einer Verleumdungsklage; ihr Kampf um die Deutungshoheit scheint aussichtslos. 

"Bis zur Wahrheit" ist nicht der erste Film, der das Thema Vergewaltigung aus Sicht der Betroffenen beschreibt und sich eingehend mit den Folgen der Tat befasst. Statistisch ist das Drama trotzdem eine Ausnahme. Maria Furtwängler und ihre Tochter haben 2016 die MaLisa Stiftung gegründet. Seither geben sie regelmäßig Studien in Auftrag, die sich oft mit der Rolle von Frauen vor und hinter der Kamera Filmrollen befassen.

Eine dieser Untersuchungen hat laut Furtwängler ergeben, "dass in einem Drittel aller TV-Formate explizite geschlechtsspezifische Gewalt, häufig schwere Gewalt gegen Frauen, dargestellt wird. Ganz selten wird dabei die Perspektive des Opfers berücksichtigt." Also hat sie sich gefragt, wie Gewalt "frei von Stereotypen, Klischees oder einem voyeuristischen Blick" aus Sicht der Betroffenen erzählt werden kann. Faklers Drehbuch ist die Antwort.