Vor einigen Wochen hat Sabine Derflinger der Feministin mit dem dokumentarischen Kinoporträt "Alice Schwarzer" ein Denkmal gesetzt. Der Film grenzte an eine Huldigung, weil er kritische Aspekte weitgehend aussparte. Das Ziel, den Menschen hinter den Kontroversen zu zeigen, hat die Österreicherin ohnehin nicht erreicht, weil sich Schwarzer nicht ungeschützt in die Seele blicken ließ. Diese Lücken schließt nun ein ARD-Zweiteiler mit dem schlichten Titel "Alice".
Selbst wenn es sonst keine Einschaltgründe gäbe: Schon allein Nina Gummich ist jede der 180 Minuten wert. Typische Gesten lassen erahnen, dass sich die Schauspielerin einiges von dem umfangreichen Bewegtbildmaterial über Schwarzer angeschaut hat, aber die Sprechweise wirkt nie einstudiert, obwohl sie gerade aus dem Off, wenn die Schauspielerin aus Briefen oder Artikeln zitiert, sehr ähnlich klingt.
Gummichs Alice ist kein Imitat, sondern das Ergebnis eines Aneignungsprozesses. Dank ihrer kraftvollen Ausstrahlung hat sie zudem das nötige Format, um einer derart raumgreifenden Persönlichkeit gerecht zu werden und sie mit jener jugendlichen Energie zu versehen, die nötig ist, um die Welt aus den Angeln zu heben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch von Grimme-Preisträger Daniel Nocke beschränkt sich auf Schwarzers Aufbruchjahre: 1964 ist sie, Anfang zwanzig, als Au-pair in Paris und wird von den Anfängen der französischen Frauenbewegung infiziert. Später kehrt sie als Korrespondentin zurück. Als 1971 über dreihundert zum Teil prominente Französinnen öffentlich bekennen, sie hätten abgetrieben, importiert sie diese Initiative nach Deutschland. Berühmt wird sie jedoch erst durch ihr im Februar 1975 vom WDR übertragenen Streitgespräch mit Esther Vilar, die in ihrem Buch "Der dressierte Mann" die steile These aufgestellt hatte, nicht die Frauen, sondern die Männer seien die eigentlichen Unterdrückten.
Knapp zwei Jahre später erscheint die erste Ausgabe der "Emma".
Der von Nicole Weegmann sehr souverän inszenierte Film hangelt sich jedoch nicht von einem biografischen Eckdatum zum nächsten, auch wenn Nocke natürlich die wichtigsten Stationen von Schwarzers Lebensgeschichte berücksichtigt hat. Im Vordergrund steht der Kampf um Gleichberechtigung, zumal die Journalistin immer wieder selbst erlebt, was es heißt, sich als Frau in einem damals typischen Männerberuf zu tummeln. Viele dieser Szenen sind allerdings auch dank der prägnanten Besetzung der prominenten Pressepersönlichkeiten – David Rott als "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein, Sven-Eric Bechtolf als "stern"-Chef Henri Nannen, Hannes Wegener als "konkret"-Herausgeber Hermann L. Gremliza – sehr unterhaltsam.
Nicht minder sehenswert ist Katharina Schüttlers Gastauftritt als Esther Vilar. Emotionales Gegenstück zum politischen Engagement ist das Beziehungsleben: In Paris verliebt sich Alice in den sympathischen Studenten Bruno (Thomas Guené), den sie schließlich wegen einer Frau verlässt; diese Beziehung wiederum endet, als sie ihr Dasein rund um die Uhr dem zunächst völlig unterfinanzierten und nur durch radikale Selbstausbeutung möglichen Projekt "Emma" widmet.
Jenseits von Schwarzers Bedeutung als historische Figur ist "Alice" dennoch in erster Linie ein fesselnder Film über eine selbstbewusste Frau, die ihrer Zeit weit voraus und mit ihrer großen Klappe die pure Provokation für eine in den Traditionen verkrustete Gesellschaft war. Auch deshalb taugt sie nach wie vor als Vorbild. "Alice" hat ohnehin nicht zuletzt wegen der aktuellen Kontroversen um die Abtreibungsgesetze in Polen und den USA gerade auch für ein junges Publikum viel zu bieten. "So lange alles möglich ist, soll man es versuchen", sagt sie zu Beginn; ein zeitloses Lebensmotto, ebenso wie ihre Trotzreaktion, als die "Spiegel"-Redaktion sie einhellig als Kollegin ablehnt ("Das wirft mich nicht um"). Gleichzeitig macht Nocke keinen Hehl daraus, dass die Zusammenarbeit mit Schwarzer nicht immer leicht war, wenn es den Mitarbeiterinnen nicht gelang, ihren hohen Maßstäben gerecht zu werden.
Anders als Derflingers dokumentarisches Porträt zeigt der Film auch sehr persönliche Seiten. Das gilt neben der liebevollen Beziehung zum Großvater (Rainer Bock in einer Minirolle) vor allem für die gelegentlichen melancholischen Anwandlungen, wenn sie zum Beispiel inmitten der Pariser Leichtigkeit eine seltsame Sehnsucht nach "Schwarzbrot und Nebel" verspürt.
Darüber hinaus ist der Zweiteiler natürlich auch als Schilderung dieser Zeit des Aufbruchs sehenswert, zumal die gleichfalls mehrfach mit dem Grimme-Preis geehrte Regisseurin ("Ihr könnt euch niemals sicher sein") immer wieder zeitgenössische Berichte etwa über die studentischen Proteste Ende der Sechziger oder über Demonstrationen gegen den Abtreibungsparagrafen einstreut. Die ARD zeigt beide Teile hintereinander; um 22.50 Uhr folgt das Porträt "Die Streitbare".