Dafür müssten sie sich jedoch "von vielen leeren Hüllen und überholten religiösen Vorstellungen lösen". Von Seidel erschien diesen Herbst im Claudius-Verlag das Buch "Nach der Leere - Versuch über die Religion der Zukunft".
Generell sei unübersehbar, dass die Religion heute zurück auf die Tagesordnungen dränge, "sei es in ihrer schmutzigen Gestalt von Terrorismus oder sei es in ihrer weichgespülten Form als Sinnsurrogat auf dem Psychomarkt", so Seidel. Die meisten Philosophen und Soziologen hätten bereits die Ausrufung des Endes der Religion zurückgenommen und sprechen mittlerweile von einer "postsäkularen Epoche, in der sich die Religion als ein überraschend lebendiges Phänomen erweist".
Die Zukunft der Religion liege nicht in großen institutionellen Formen und absolut gesetzten Dogmen, sondern gehe zunehmend von einzelnen Menschen aus, "denen eine Verbindung zu einem größeren Ganzen bewusst geworden ist", sagte Seidel dem epd. Immer mehr werde in der Gesellschaft deutlich, dass Eigeninteresse sowie Gewinnmaximierung allein auf die Dauer nicht glücklich machten, so der Leitende Redakteur der evangelischen Wochenzeitung "Der Sonntag".
Seidel warb für eine Spiritualität der "Liebe, des Mitleids, der Achtung und des Respekts gegenüber anderen Menschen, den Tieren und der ganzen Natur". Eine Religion der Zukunft müsse zudem gerade in der heutigen Zeit den Menschen die Angst vor dem Ungewissen nehmen. Die Kirchen müssten sich noch mehr darauf konzentrieren, beim Umgang mit diesen Unwägbarkeiten zu helfen, wie es jetzt in der Corona-Zeit besonders wichtig sei.
Eine befreiende, sinnstiftende Form von Religiosität
Für die Kirchen bestehe die Aufgabe darin, ihre "Werte und Traditionen so zu übersetzen, dass auch säkulare Menschen diese für das eigene Leben als nützlich empfinden." Doch nicht die äußere Zugehörigkeit zu einer Institution werde entscheidend sein. Den religiösen Menschen der Zukunft erkenne man daran, "dass er fähig ist, eine vertrauende Beziehung zum Ungewissen zu haben und dass sich in seinem Leben eine größere Liebe spiegelt", so Seidel.
Auch am Reformationstag, sagte Seidel, "geht es um die Entdeckung, dass sich der einzelne Mensch von äußeren Zwängen befreit und mit seinem Herzen Gott, dem Göttlichen oder wie immer man es nennt, öffnet". Die "Symbolschätze der jüdisch-christlichen Tradition bieten dafür einen seriösen Weg jenseits von Esoterik und Fundamentalismus hin zu einer befreienden, sinnstiftenden Form von Religiosität."