Bundesweit hat das Coronavirus das öffentliche Leben lahmgelegt. Niemand kann verlässlich sagen, wie viele Menschen erkranken werden und wie lange der Ausnahmezustand dauert. Ist Ihnen mulmig zumute?
Heinrich Bedford-Strohm: Mulmig wäre das falsche Wort. Aber es ist eine gewisse Anspannung da, zumal weil ich weiß, welche Verantwortung auch wir als Kirche haben. Wir möchten die Menschen klug und stärkend begleiten. Zugleich spüre ich gerade sehr viel Bereitschaft zu gegenseitiger Unterstützung. Es beeindruckt und berührt mich, wie die Menschen jetzt zusammenstehen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Bedford-Strohm: Heute morgen habe ich an den Briefkästen an meinem Wohnhaus einen handgeschriebenen Zettel entdeckt: Ein junger Nachbar bietet Hilfe an bei Einkäufen für jene, die besonders gefährdet sind. So eine spontane Hilfsbereitschaft zeigt sich gerade an vielen Orten.
Gleichzeitig gibt es offenbar Menschen, deren Solidarität am Supermarktregal aufhört, und sogar solche, die Desinfektionsmittel aus einem Krankenhaus stehlen. Was zeichnet das für ein Bild unserer Gesellschaft?
Bedford-Strohm: Natürlich gibt es so etwas auch, wo das Schlechteste aus einem Menschen herausgelockt wird. Wir nennen das im christlichen Glauben Sünde. Der Reformator Martin Luther hat von einer "Verkrümmung des Menschen in sich selbst" gesprochen, der Trennung von Gott und dem Mitmenschen. In Krisenzeiten zeigt sich das manchmal in besonderer Weise. Doch die rücksichtslosen Hamsterkäufe bleiben aus meiner Sicht die Ausnahme. Ich sehe in meinem Umfeld viel Besonnenheit. Es ist keine Panik da, es ist eine gespannte und auch sorgenvolle Erwartung an das, was da auf uns zukommt.
Bleibt die Besonnenheit, wenn der Ausnahmezustand lange anhält? Verlässliche Prognosen zur Dauer der Einschränkungen gibt es derzeit nicht.
Bedford-Strohm: In den vergangenen Tagen habe ich zunächst einmal eine wachsende Akzeptanz beobachtet. Viele haben sich informiert und verstanden, dass wir mit den drastischen Maßnahmen heute besonders gefährdete Menschen schützen, vor allem Ältere und Kranke. Selbst wenn man sich nicht um sich selbst sorgt, spürt man die Verantwortung. Es geht darum, unbedingt zu verhindern, dass man in einem Krankenhaus entscheiden muss, ob ein Mensch, der 75 ist, noch viele weitere Jahre leben darf, oder ob er aufgegeben werden muss, weil nicht genügend Beatmungsgeräte vorhanden sind.
"Es ist beglückend zu sehen, wie Menschen die Herausforderung annehmen"
Die Bundesregierung hat auch ein Verbot für Gottesdienste aller Religionsgemeinschaften empfohlen - unabhängig davon, dass die Landeskirchen bereits viele Gottesdienste und andere Veranstaltungen abgesagt haben. Trifft das die Kirche nicht ins Mark, schließlich ist sie für viele Gläubige ein Ort der Hoffnung?
Bedford-Strohm: Natürlich ist es schmerzlich, dass wir keine Gottesdienste mehr in den Kirchen feiern können. In der Passions- und Osterzeit haben wir Christinnen und Christen besonderen Grund, uns in Kirchen zu versammeln. Die Botschaft der Hoffnung ist etwas, das uns Kraft gibt. Aber wir wissen auch, dass Gottesdienste nie um den Preis von Menschenleben abgehalten werden dürfen. Deswegen sagen wir Ja zu allem, was hilft, die Gefahr und das Risiko zu vermindern.
Welche Chancen bietet da die Digitalisierung?
Bedford-Strohm: Die Chance besteht darin, dass wir neue Formate an die Stelle der jetzt nicht mehr stattfindenden Angebote setzen. Es ist geradezu beglückend zu sehen, wie Menschen diese Herausforderung annehmen und ihre ganze Kreativität einsetzen, digitale Formate zu entwickeln. Vielleicht blicken wir irgendwann auf diese Zeit zurück und sehen, dass sie uns zu nachhaltigen Innovationsschüben verholfen hat, weil wir unsere traditionelle Art, Gottesdienst zu feiern, nicht ausüben konnten.
"Ich glaube nicht, dass es ein trauriges Osterfest wird"
Was ist mit Beerdigungen?
Bedford-Strohm: Beerdigungen müssen stattfinden können. Wir müssen sie aber so gestalten, dass keine Infektionsgefahr entsteht. Der aktuelle Stand ist, dass Beerdigungen im Freien am Grab stattfinden können. Es ist noch nicht klar, wie viele Menschen daran teilnehmen können.
Sie haben Ostern angesprochen - wird das nicht ein trauriges Osterfest?
Bedford-Strohm: Ich glaube nicht, dass es ein trauriges Osterfest wird. Freude kann sich auch über die digitalen Medien und viele andere Wege verbreiten. Freude ist keine Frage des Formats. Die Tatsache, dass es möglicherweise keine herkömmlichen Gottesdienste zu Ostern geben wird, sollte man nicht von vornherein allein als Defizit sehen. Wir werden sehen, welche kreativen Formate entstehen. Ich sehe Ostern mit Vorfreude entgegen, zumal ich schon jetzt von den kreativen Einfällen der Menschen begeistert bin.
"Gottesdienste wären im Moment nur um den Preis von Menschenleben möglich"
Finden digitale Formate nicht ihre Grenzen bei Segenshandlungen oder beim Abendmahl?
Bedford-Strohm: Ich unterscheide da. Abendmahl braucht diese physische Präsenz. Das bleibt vielleicht nicht mein endgültiges Urteil, aber ich persönlich benötige das. Beim Segen ist es schon etwas anderes. Ich habe zum Beispiel die Wirkung des Segensroboters, den es beim 500. Reformationsjubiläum 2017 in Wittenberg gab, unterschätzt. Die Roboterstimme hat mir ein biblisches Segenswort zugesprochen. Trotz der Tatsache, dass es keine Berührung gab und kein echter Mensch vor mir stand, hat das Segenswort trotzdem gewirkt. Und so kann auch ein Fernsehgottesdienst Trost geben.
Natürlich wünschen wir uns alle, dass so schnell wie möglich die physische Präsenz beim Gottesdienst wieder möglich ist. Aber sie ist im Moment eben nur um den Preis von Menschenleben möglich. Und deswegen müssen wir die Situation akzeptieren, wie sie ist.
Wir führen dieses Interview per Videogespräch, anstatt uns zu treffen. Ist das für Sie eine gleichwertige Art der Kommunikation wie ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht?
Bedford-Strohm: Das macht doch Spaß, und so unpersönlich ist es auch nicht. Aber nie und nimmer ist es ein Ersatz für leibliche Begegnung. Ich bin ein Mensch, der gerne umarmt, und ich lasse mich auch gerne umarmen. Ich muss mich jetzt wirklich sehr zurückhalten - auch beim Händedruck. Da muss ich größte Selbstdisziplin wahren. Digitale Kommunikation ersetzt nicht die direkte Kommunikation, sie ist aber eine sehr willkommene Art zu kommunizieren, wenn das andere schlicht nicht geht. Auch wenn ein Mensch in einem anderen Land lebt - wie die Hälfte meiner Familie in den USA.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt, nach der Corona-Pandemie wird die Welt eine andere sein. Teilen Sie seine Einschätzung?
Bedford-Strohm: Diese historische Erfahrung wird uns verändern. Und ich hoffe, sie wird uns zum Positiven verändern. Menschen machen die Erfahrung, welche Kraft es gibt, wenn man zusammensteht und nicht den Kopf in den Sand steckt. Und vielleicht kann uns das viel bewusster leben lassen und viel bewusster wahrnehmen lassen, wie kostbar bestimmte Dinge sind, sich umarmen zum Beispiel.
Wenn man das aktuelle internationale Krisenmanagement betrachtet, kann man aber auch das Gegenteil sehen, nämlich dass es schwierig ist, Europa zusammenzuhalten. Vom Versuch, einen möglichen neuen Impfstoff für ein ganzes Land zu reservieren, mal ganz abgesehen.
Bedford-Strohm: Das ist richtig. Diese Phänomene sehe ich auch kritisch, und über die bin ich zum Teil auch zornig. Aber das heißt ja nicht, dass das jetzt tonangebend für die Zukunft sein muss. Was das Medikament angeht, machen wir ja auch die Erfahrung, dass das nicht funktioniert hat. Der Egoismus hat sich nicht durchgesetzt. Wir haben erlebt, dass die Verantwortung und die weltweite Solidarität die Oberhand behalten.