Ein Gang zum Amt geschafft, endlich geduscht und beim Arzt gewesen: Es sind die kleinen Fortschritte obdachloser Menschen, auf die sich Bertold Reetz in der Wohnungslosenhilfe konzentriert hat. "Man muss die Erfolge sehen", betont der 65-jährige Heilpädagoge, der diesen Arbeitsbereich des Bremer Vereins für Innere Mission mehr als zwei Jahrzehnte geprägt hat, lange als Bereichsleiter. Mittlerweile zählt der gebürtige Freiburger zu den bundesweit erfahrensten Sozialexperten der Diakonie in diesem Bereich. Anfang Dezember geht er in der Wohnungslosenhilfe in den Ruhestand.
Im Szenetreff am Hauptbahnhof treffen sich an diesem Morgen schon früh sucht- und alkoholkranke Menschen genauso wie wohnungslose Männer. Reetz hat sich zu ihnen gesetzt, stellt Fragen, hört zu. Das sei typisch für ihn, meint Bremens Landesdiakoniepastor Manfred Meyer. Bertold Reetz vertrete seine Positionen nicht lauthals: "Er ist ein hörender, ein differenziert denkender und ein im Gespräch überzeugender, ein leiser, aber ausgesprochen zielstrebiger Kämpfer für die Rechte von Wohnungslosen und Menschen in prekären Lebenslagen."
Auf der Straße haben es Rebellen nicht leicht
Als Beschäftigter der psychosozialen Hilfen der Inneren Mission arbeitete Reetz ab 1988 zunächst daran mit, die Bremer Langzeitpsychiatrie im Kloster Blankenburg bei Oldenburg aufzulösen und Wohngruppen zu schaffen. "Die Psychiatrie war ganz schrecklich. Niemand in Bremen hat sich um die Menschen dort gekümmert", erinnert er sich. "Die Leute waren total entmündigt. Und wer rebellisch war, hatte es ganz besonders schwer." 1993 wechselte er in die Wohnungslosenhilfe und konnte dort auf seine Erfahrungen in Blankenburg zurückgreifen.
Denn auch auf der Straße haben es gerade Rebellen nicht leicht - und auch diejenigen nicht, die eine Lebensgeschichte erzählen, die beim Zuhörenden Zweifel auslösen. "Ich habe diese Geschichten immer ernst genommen, manchmal auch gerne geglaubt, ohne den Blick für die Realität zu verlieren", bekräftigt Reetz. "Ich bin ja kein Kriminalist, der der Wahrheit auf der Spur ist, sondern möchte in Kontakt kommen." Klar sei doch, dass es den Menschen auf der Straße nicht gutgehe. "Das ist ihnen auch unangenehm. Sie wollen eine andere Lebensgeschichte. Das darf ich nicht moralisch werten."
Manchmal hilft eine verrückte Idee
Da scheint sie durch, die Grundhaltung des Mannes, der in Bremen neben den stationären Angeboten für Wohnungslose ambulante Hilfen aufgebaut und später auch Verantwortung in der Flüchtlingshilfe übernommen hat. Reetz sei ein Mensch mit einer überzeugenden humanistischen Grundeinstellung, meint Karl Bronke, langjähriger Senatsdirektor in der Bremer Sozialverwaltung: "Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Menschen, die der Hilfe bedürfen, auch einen Anspruch auf Unterstützung haben und gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft sind."
Der typische Wohnungslose sei aber "nicht der große Kämpfer", um das für sich durchzusetzen, hat Reetz erfahren. Deshalb sei ein respektvoller und ehrlicher Umgang mit ihnen gefragt. "Und manchmal lieber eine verrückte Idee als gar keine." Ein Bauwagenplatz mit schlichten Unterkünften etwa. Oder der Szenetreff am Bahnhof, der von einigen Kritikern abschätzig als "Hühnerkäfig" bezeichnet wird. "Wird mittlerweile gut angenommen", beobachtet Reetz. Für ihn ist aber auch klar, was in erster Linie fehlt und geschaffen werden muss: "Wohnraum, Wohnraum, Wohnraum."
Ein Herzensprojekt des Sozialexperten, der noch eine Weile in der ambulanten Suchthilfe weiterarbeiten wird, ist die Urnen-Grabstelle für wohnungslose Menschen auf dem Friedhof in Bremen-Walle. Reetz hat sie mit initiiert, seither wurden dort 55 Menschen beerdigt. Sie liegt mitten im Gräberfeld. Ein symbolischer Ort, findet Reetz: "Das bezeugt, dass obdachlose und arme Menschen ein Teil der Gesellschaft sind und verleiht ihrem Tod die Würde, die sie im Leben oft genug nicht erfahren durften."