Die Enttäuschung steht Pfarrer Eckhard Struckmeier aus Lübbecke ins Gesicht geschrieben. Das Verwaltungsgericht in Minden hat am Mittwoch seine Kirchengemeinde zur Erstattung von 10.000 Euro Sozialleistungen an die Stadt Lübbecke verurteilt. Dass Bürgen auch nach der staatlichen Anerkennung von Flüchtlingen weiter für deren Lebensunterhalt einstehen sollen, ärgert Struckmeier: "Auf Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren, wirken die Forderungen wie eine Bestrafung."
Aufgrund von Verpflichtungserklärungen der Kirchengemeinde konnten sich 2014 zwölf syrische Bürgerkriegsflüchtlinge nach Lübbecke in Sicherheit bringen, darunter auch Frau M. "Wir übernahmen die Bürgschaften auf Bitten von Verwandten der Syrer, weil diese selbst nicht genug Geld dafür hatten", berichtet der Pfarrer. 100.000 Euro legte der Kirchenkreis Lübbecke für das mit den Verpflichtungen verbundene Risiko in eine Rücklage.
Für 58 Personen Bürgschaften vorgenommen
Nachdem die heute 77-jährige M. ein Jahr später den Flüchtlingsstatus erhielt, zahlte die Stadt Lübbecke ihr Hilfe zur Grundsicherung im Alter - die Kirche sah sich aus der Verpflichtung entlassen.
So wie den Lübbecker Protestanten ergeht es bundesweit zahlreichen Privatleuten, Initiativen und Gemeinden. Seit mehr als einem Jahr verschicken Jobcenter und Sozialämter Rechnungen an Bürgen, die zwischen 2013 und 2015 Verpflichtungserklärungen für den Lebensunterhalt syrischer Flüchtlinge abgegeben hatten. Schätzungsweise haben rund 7.000 Menschen in Deutschland solche Erklärungen unterschrieben, durch die Bürgerkriegsflüchtlinge im Rahmen von Aufnahmeprogrammen der Länder auf sicherem Weg einreisen konnten.
Kirchengemeinden haben nach Angaben des Landeskirchenamtes in Bielefeld allein in den westfälischen Kirchenkreisen Minden, Lübbecke, Vlotho und Herford für 58 Personen Bürgschaften vorgenommen. Wie andere Bürgen waren sie davon ausgegangen, nur so lange für die Flüchtlinge aufkommen zu müssen, bis deren Asylverfahren positiv beschieden sind. Diese Position wurde damals unter anderem von den Ländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen vertreten. Aus Sicht der Bundesregierung galten die Erklärungen aber auch nach der Anerkennung der Flüchtlinge fort. Erst das Integrationsgesetz bestimmte 2016 eine Fünf-Jahres-Frist, die für "Altfälle" auf drei Jahre reduziert wurde.
Die Zahlungsaufforderungen belaufen sich nach Angaben einer Initiative aus Minden auf Summen zwischen 3.000 und 60.000 Euro. "Viele Bürgen sind in Sorge, ihre Ersparnisse für das Alter zu verlieren oder Privatinsolvenz anmelden zu müssen", sagt Rüdiger Höcker vom Kirchenkreis Minden. Mittlerweile ziehen zahlreiche Betroffene vor Gericht - allein in Niedersachsen sind 400 Verfahren anhängig.
Anders als das Mindener Gericht hatten zuletzt Verwaltungsgerichte in Osnabrück und Hannover den Bürgen Recht gegeben. In NRW dagegen scheiterten Kläger vor dem Oberverwaltungsgericht Münster, sie wurden lediglich um die Kosten für Kranken- und Pflegeversicherung entlastet. Nur in einem Fall siegte ein Flüchtlingsbürge gegen ein Jobcenter in Rheinland-Pfalz, weil die dortige Aufnahmeanordnung ausdrücklich eine Befristung bis zur Flüchtlingsanerkennung vorsah.
Aus Sicht der westfälischen Landeskirche müsse eine politische Lösung her, sagt der Jurist Thomas Heinrich vom Landeskirchenamt Bielefeld. Wenn der Staat einem Flüchtling seinen Schutz gewähre, müsse er auch dessen Lebensunterhalt sichern: "Es geht nicht an, dass der Staat ein Grundrecht privatisiert", kritisiert Heinrich. Bis es aber einen solchen Ausweg gibt, raten Welthaus und Kirchenkreis in Minden allen Bürgen: "Klage und zahle nicht!"
Doch auch die Politik tut sich schwer. So haben Gespräche auf Ebene der Innenminister von Bund und Ländern über Wege zur Entlastung der Flüchtlingsbürgen nach Angaben der NRW-Landesregierung bislang keine Fortschritte erbracht.
Immerhin verschafft seit März ein Moratorium den Zahlungspflichtigen eine Atempause: Behörden verschicken zwar weiter Bescheide, ziehen die Gelder aber bis auf weiteres nicht ein. An dieser sogenannten "befristeten Niederschlagung" werde derzeit weiter festgehalten, erklärte ein Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd). Es sei Anliegen der Bundesregierung, im Umgang mit dem Konflikt "sachgerechte Lösungen zu finden", sagte der Sprecher. Die Lübbecker Kirchengemeinde will laut Pfarrer Struckmeier nach der schriftlichen Urteilsbegründung entscheiden, ob sie gegen das Mindener Urteil in Berufung geht.