Letzter Ausweg: Flucht per Hubschrauber

Historisches Foto  vom 29.4.1975, das Vietnamesen bei der Flucht mit einem Hubschrauber im Hintergrund zeigt.
U.S. Marines in Japan Homepage/CC/Wikimedia Commons
Angst um Leib und Seele: Flüchtlinge aus Süd-Vietnam werden von US-Truppen 1975 gerettet.
Vietnam-Krieg endete vor 50 Jahren
Letzter Ausweg: Flucht per Hubschrauber
Im April 1975 endet der Vietnamkrieg - die USA haben sich schon zwei Jahre zuvor zurückgezogen. Als Kommunisten das südvietnamesische Saigon stürmen, versuchen viele Vietnamesen verzweifelt, sich ausfliegen zu lassen. Die Bilder erinnern an Kabul.

Seit Tagen drängen sich Menschen vor der US-Botschaft in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon, wollen an Bord eines der Hubschrauber, die im Abstand von je zehn Minuten Menschen ausfliegen. Vor der Stadt stehen nordvietnamesische Truppen und rüsten sich zum Sturm.

Das Ende des Vietnamkriegs kommt am späten Vormittag des 30. April 1975, als zwei Panzer durch die Tore des südvietnamesischen Präsidentenpalasts walzen. Vorher schon, um 7:53 Uhr, war der letzte US-Helikopter abgehoben, an Bord die Wachmannschaft der Botschaft.

Ein berühmtes Foto aus jener Zeit zeigt Menschen, die an Bord eines Hubschraubers auf einem Dach gelangen wollen. Schauplatz ist allerdings nicht die Botschaft. Das Bild entstand schon einen Tag zuvor in der Gia Long Street, einen Kilometer von der Botschaft entfernt.

Bilder von einst ähneln Bildern aus Afghanistan 

Die Bilder aus Saigon ähneln jenen, die 2021 beim Rückzug der westlichen Truppen aus Afghanistan zu sehen waren. Der emeritierte Hamburger Historiker Bernd Greiner sieht Ähnlichkeiten nicht nur in den Bildern. Sowohl in Vietnam als auch in Afghanistan seien die USA in einer Glaubwürdigkeitsfalle gewesen, erklärt er: "Obwohl sie wissen, dass sie nicht gewinnen können, zögern sie den Abzug hinaus, weil sie ihre Glaubwürdigkeit nicht beschädigen wollen."

Schon einige Tage vor dem 30. April 1975 ist der deutsche Botschafter in Südvietnam, Heinz Dröge, zusammen mit den Botschaftsangehörigen mit einem Charterflug nach Thailand geflogen. "Wir verließen Saigon inmitten des großen Exodus", berichtet er später. "Zum Flugplatz bewegte sich eine riesige Karawane landflüchtiger Vietnamesen. Den Regierungsbeamten an den verschiedenen Stationen stand die Nervosität in den Gesichtern. Am Flughafen trafen wir hohe Funktionäre mit gepackten Koffern. Der Staat war am Ende."

Ein Panzer aus dem Vietnamkrieg steht im Kriegsmuseum (War Remnants Museum) in Ho-Chi-Minh-Stadt. Das Museum erlebt derzeit einen besonders großen Besucherandrang von Touristen aus aller Welt.

Kurz vor Mittag am 30. April 1975 flattert die blaurote Fahne mit dem gelben Stern der Rebellentruppe des Vietcong über dem Präsidentenpalast in Saigon. Einige Stunden später wird im Radio Südvietnams bedingungslose Kapitulation verlesen. Der Vietnamkrieg ist vorbei.

Für die USA ist er schon mehr als zwei Jahre lang zu Ende gewesen. Am 27. Januar 1973 hatten sie mit Nordvietnam einen Waffenstillstand geschlossen und ihre Truppen abgezogen. Zugleich hatten sie Südvietnam enorm aufgerüstet. Das Ziel sei gewesen, dass der Süden noch lange genug kämpfe, damit es so aussehe, als sei es keine US-Niederlage, sagt Greiner: "Es ging um ein 'decent interval', einen 'angemessenen zeitlichen Abstand'." US-Außenminister Henry Kissinger hatte nach Vertragsabschluss gesagt, die Südvietnamesen könnten noch "wenn sie Glück haben, anderthalb Jahre" durchhalten.

Vietnamesische Flüchtlinge besteigen einen Helikopter der US-Marines am 29. April 1975.

Greiners emeritierter Innsbrucker Kollege Rolf Steininger erläutert: "Die Gründe für die Niederlage waren vielfältig: keine klare Taktik, ein 'begrenzter totaler Krieg' - ein Widerspruch in sich selbst -, eine korrupte Führungsclique in Südvietnam und keine klare Antwort auf die Frage des einfachen GI und der Öffentlichkeit, warum man überhaupt in Südvietnam war und Opfer brachte."

Viele bleiben zurück

Im März 1975 startet Nordvietnam eine letzte Offensive, überrennt die Truppen Südvietnams und stößt in Richtung Saigon vor. Die Führung des Südens richtet verzweifelte Bitten um Hilfe an die USA. Am 23. April antwortet US-Präsident Gerald Ford auf die Bitten, allerdings nicht so wie von den Südvietnamesen erhofft. In einer Rede an der Tulane University in New Orleans sagt er: "Heute kann Amerika den Stolz zurückgewinnen, der vor Vietnam da war. Aber er kann nicht erreicht werden, indem man einen Krieg noch einmal führt, der beendet ist, soweit er Amerika betrifft."

Allerdings bringen die USA nun Amerikaner und Vietnamesen außer Landes, die während des Kriegs mit ihnen kooperiert haben. Doch die Zeit reicht nicht mehr. Zwar schaffen es so gut wie alle Amerikaner und 51.000 Vietnamesen heraus. Aber viele Einheimische bleiben zurück.

Die Sieger benennen Saigon in Ho-Chi-Minh-Stadt um. Sie richten Zehntausende Kollaborateure hin - oder jene, die sie dafür halten. Sie verhaften bis zu 400.000 weitere Menschen und sperren sie in Umerziehungslager. Dort müssen viele der Verhafteten Folter, Hunger, Krankheiten und harte Arbeit erdulden.

Unter diesen Umständen fliehen viele Vietnamesen auch nach Kriegsende aus dem Land, viele von ihnen als "boat people" aufs Meer hinaus. Unter anderen retten der Journalist Rupert Neudeck und sein Team mit dem Schiff "Cap Anamur" zahlreiche dieser Flüchtlinge. Dennoch kommen allein während der ersten Fluchtwelle rund 50.000 Vietnamesen ums Leben. Immerhin fast 60.000 schaffen es ins Exil und bauen sich dort eine neue Existenz auf.

Krieg in Indochina - Chronologie
Die Wahrnehmung der Kriege im heutigen Vietnam, Laos und Kambodscha ist geprägt durch das Engagement der USA, vor allem in den 1960er und 70er Jahren. Die gesamte Auseinandersetzung währte aber deutlich länger und war der längste militärische Konflikt im 20. Jahrhundert.

* 1946: Fast sofort nach dem Ende der japanischen Besatzung beginnt der erste Indochina-Krieg. Die "Front für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams" (Vietminh), der kommunistische und andere Kräfte angehören und die von Ho Chi Minh angeführt wird, kämpft gegen die französische Kolonialmacht.

* 1954: Nach der Niederlage bei Dien Bien Phu zieht sich Frankreich aus seiner Kolonie zurück. Indochina wird geteilt in Kambodscha, Laos, das kommunistisch regierte Nordvietnam und das amerikanisch unterstützte Südvietnam. Die USA haben zuletzt 80 Prozent der französischen Kriegskosten getragen. Sie helfen nun auch dem Regime im Süden in dem sich dort entspinnenden Bürgerkrieg gegen Rebellen.

* 1961: Die kurz zuvor gegründete "Nationale Front für die Befreiung Südvietnams" (Vietcong) wird zur dominierenden Rebellenbewegung in Südvietnam. Sie ist kommunistisch kontrolliert und wird von Nordvietnam unterstützt, ab 1964 auch mit regulären Truppen. Die USA schicken im Laufe der Zeit immer mehr "Berater", die teilweise selbst in die Kämpfe eingreifen. Im Januar 1961 stehen 800 US-Amerikaner im Land, im November 1963 bereits 16.000.

* 1964: Am 2. August greifen nordvietnamesische Schnellboote US-Schiffe im Golf von Tonkin an. Eine zweite Attacke melden die USA zwei Tage darauf, allerdings fand dieser Angriff wahrscheinlich nie statt. Als Antwort auf die "Zwischenfälle im Golf von Tonkin" bombardieren US-Kampfflugzeuge am 5. August großflächig Ziele in Nordvietnam. Außerdem entsenden die USA ab 1965 reguläre Truppen nach Südvietnam, um gegen den Vietcong zu kämpfen.

* 1968: Höhepunkt der US-Truppenpräsenz in Vietnam mit mehr als 500.000 GIs. Nach der Tet-Offensive des Vietcong verliert die US-Öffentlichkeit den Glauben, dass der Krieg siegreich beendet werden könne. US-Präsident Lyndon B. Johnson erklärt seinen Verzicht auf eine weitere Kandidatur um die Präsidentschaft, sein Nachfolger wird Richard Nixon, der verspricht, den Krieg zu beenden.

* 1969: Nixon verkündet eine "Vietnamisierung" des Kriegs und den schrittweisen Abzug der US-Truppen. Zugleich weitet er den Krieg durch Bombardements und einen Einmarsch in Kambodscha 1970 aus, um ihn doch noch zu gewinnen.

* 1973: Die USA und Nordvietnam schließen einen Waffenstillstand, die USA ziehen sich aus Vietnam zurück.

* 1975: Im März beginnen Nordvietnam und Vietcong eine Offensive. Am 30. April fällt die südvietnamesische Hauptstadt Saigon. Vietnam wird unter kommunistischer Führung vereinigt, der Krieg ist nach rund 30 Jahren zu Ende.

Die Folgen des Krieges: Vietnam und das Leid der Menschen
Die Folgen des Kriegs sind in Vietnam, Kambodscha und Laos bis heute spürbar. Nicht nur Menschen in Südostasien leiden darunter, sondern auch viele US-Veteranen.

Die US-Luftstreitkräfte klinkten über Vietnam, Laos und Kambodscha rund 9,5 Millionen Tonnen Bomben aus - mehr als sie im gesamten Zweiten Weltkrieg abgeworfen hatten. Bis heute liegt eine große Zahl Blindgänger im Boden der drei Staaten. Bauern können deswegen ihre Felder nicht bestellen.

Um dem Feind die Deckung im Dschungel zu nehmen, versprühte das US-Militär fast 80 Millionen Liter Entlaubungsmittel, meist "Agent Orange". Es enthält Dioxin, das hochgradig krebserregend ist und das Erbgut schädigt. Bis heute kommen als Folge des "Agent-Orange"-Einsatzes überdurchschnittlich viele Kinder in Vietnam mit körperlichen Missbildungen oder geistigen Behinderungen zur Welt. Die Zahl der "Agent-Orange"-Opfer wird auf zwei bis vier Millionen geschätzt, davon 150.000 Kinder.

Während des Kriegs nahm rund ein Drittel der US-Soldaten Heroin. Viele kamen danach nicht wieder weg von der Droge. Nach dem verlorenen Krieg wollte die US-Gesellschaft Vietnam nur noch vergessen und vergaß die Veteranen vielfach mit, die mit dem Leben nicht mehr zurechtkamen. Arbeitslosigkeit und psychische Probleme bestimmen das Leben vieler Veteranen. Noch Anfang der 1990er Jahre waren ein Viertel bis ein Drittel der rund 750.000 Obdachlosen in den USA ehemalige Vietnamkämpfer.